Soll helfen, einen neuen DOSB-Präsidenten zu finden: Christian Wulff - Foto: Bundespräsidialamt
Die Krise des DOSB: Eine schonungslose und verheerende Bilanz – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Detailliert legen Berichte offen, welche Probleme sich im Dachverband türmen. Doch der nächste DOSB-Präsident wird zunächst nur für ein Jahr gewählt.
Die Liste der Versäumnisse ist lang. Die Zeit, sie zu beheben, ist kurz. Während sich am Samstag Präsidium und Vorstand des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) mit den Berichten von fünf Arbeitsgruppen zu Inhalt, Struktur und personeller Aufstellung des Verbandes befassten, am Sonntag die Fachverbände und am Montag die Landessportbünde, wird deutlich, dass die Präsidentin oder der Präsident, die am 4. Dezember von der Mitgliederversammlung in Weimar neu gewählt werden sollen, zunächst für ein einziges Jahr ins Amt kommen
Dies bestätigten am Sonntag die Initiatoren des Prozesses, Jörg Ammon und Ingo Weiss, Präsident des Bayerischen Landes-Sportverbandes und Präsident des Deutschen Basketball-Bundes. „Nachwahlen und Nachberufungen gelten für alle Organe und Gremien jeweils für die laufende Wahlperiode“, heißt es in Absatz 9 des Paragrafen 27 der DOSB-Satzung. Wollte man das neue Präsidium für die übliche Amtsperiode von vier Jahren wählen, müsste die Satzung geändert werden.
Dies wird die von dem ehemaligen Bundespräsidenten Christian Wulff geführte Findungskommission vor das Problem stellen, nicht nur jemanden für das Ehrenamt zu finden, sondern die Persönlichkeit auch darauf einzustellen, sich sowohl Ende 2021 als auch Ende 2022 zur Wahl zu stellen; dann endet die Wahlperiode des Präsidiums von Alfons Hörmann.
Dieser will nicht der Empfehlung der Ethikkommission seines Hauses folgen und sich durch Neuwahl das Vertrauen aussprechen lassen, sondern hat angekündigt, zur Mitgliederversammlung zurückzutreten. Weiss sagt, dass dies nicht einmal nötig sei. Das Präsidium habe die Neuwahl für die Tagesordnung vorgesehen; dies impliziere, dass alle Mitglieder neu gewählt werden.
Welche Aufgabe in der Nachfolge des seit 2013 amtierenden Hörmann wartet, fasste die langjährige Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag, die SPD-Abgeordnete Dagmar Freitag, bei der Veranstaltung #Neuland in Aachen in der vergangenen Woche pointiert zusammen: „Da wird es eine Persönlichkeit brauchen, egal ob Mann oder Frau, die erst einmal die Scherben zusammenkehrt.“ Wer sich das Ausmaß des Desasters vor Augen führe, werde sich gut überlegen, ob er oder sie sich das antun wolle. Auf nationaler Ebene liege der Sport am Boden, sagte sie und sprach das „zum großen Teil zerrüttete Verhältnis zur Berliner Politik“ an ebenso wie das Verhältnis zu den Medien.
International müsse der Dachverband wieder Beachtung finden. Solch scharfe Befunde und noch mehr finden sich in den detaillierten Berichten von drei Unterarbeitsgruppen zur Struktur sowie zwei weiteren zu Inhalt und Personal. Vordergründig geht es dabei um Pläne und Vorhaben. Doch in Wirklichkeit sind die Texte eine schonungslose Bilanz. Sie ist verheerend.
Die Krise des DOSB gründe auf der zu starken Fokussierung auf das Eigeninteresse des Dachverbandes, heißt es an einer Stelle. Demnach treffen Fehler und Versäumnisse über das Gefüge der Sportorganisationen hinaus auch die Gesellschaft. Kinder beherrschten nicht mehr grundlegende Bewegungselemente, heißt es da, Öffentlichkeit und Verband aber schenkten dem zu wenig Aufmerksamkeit. Die Defizite gefährdeten die Entwicklung der jungen Menschen. Die Pandemie habe das Problem verschärft.
„Den Themenkomplexen ‚Bewegung für Kinder und Jugendliche‘ und ‚Raum für Bewegung‘ müssen mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen gewidmet werden, und dies über alle Verbändesäulen hinweg“, schreibt die AG Inhaltliche Ausrichtung. DOSB und Sportjugend seien gefordert, das Thema als Querschnittsaufgabe zu verstehen und daran mitzuwirken, dass es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe wird, Kindern und Jugendlichen Bewegung zu ermöglichen und damit zur Zukunftsfähigkeit einer gesunden Gesellschaft beizutragen.
Die Arbeitsgruppe fordert Kooperation von Vereinen mit Schulen und Kindergärten, Lobbyarbeit für dieses Thema in der Politik, bei Eltern und nicht zuletzt im Sport selbst. Zudem regen sie an, dass der Sport Sozialakteur werde und soziale Unternehmen gründe.
Der DOSB solle nach dem Fokus auf Spitzensport und dessen noch zu vollendende Reform nunmehr die vielfältigen Anliegen des Sports für alle einschließlich des Sports der nicht in den 90.000 Sportvereinen organisierten Menschen mindestens gleichwertig beachten. Ein Mitglied des Vorstandes solle deshalb wieder mit dem Thema Sportentwicklung betraut und von einer gestärkten Abteilung unterstützt werden. Der DOSB hatte nach dem Ausscheiden von Karin Fehres deren Stelle nicht neu besetzt; die Verantwortung für Sportentwicklung übernahm die Vorstandsvorsitzende Veronika Rücker.
Im Präsidium soll, damit es besser als Aufsichtsrat wirkt, das Ressortprinzip aufgehoben werden. Bislang waren fünf Zuständigkeiten genannt: Leistungssport, Breitensport/Sportentwicklung, Wirtschaft/Finanzen, Bildung/olympische Erziehung sowie Frauen/Gleichstellung. Um im Präsidium die Gesamtverantwortung zu stärken, soll die Konzentration auf einen Themenbereich beendet werden.
Beim Thema Schutz vor (sexualisierter) Gewalt laufe die Diskussion am DOSB vorbei. Grüne und Union haben das Zentrum für Safe Sport, das Athleten Deutschland fordert, in ihre Wahlprogramme aufgenommen. Das Bundesinnenministerium plane eine Machbarkeitsstudie. Der DOSB habe das Impulspapier der Athleten nicht aufgegriffen, ein Dialog finde nicht oder nur partiell statt.
Fazit der AG Inhalt: „Stattdessen scheint der organisierte Sport gefangen zwischen öffentlichen Meinungsbildern, politischem Willen und starren Verfahren.“
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 20. September 2021