Das Konzept von Olympia 2012 setzt auf Kreativität und preiswerte Sportstätten. Vieles soll später wieder abgebaut werden und den Weg freimachen für einen neuen Stadtteil
Die Discount-Spiele von London – Matthias Thibaut, London im Tagesspiegel
Kein Wunder, dass Nigel King der hunderttausendste Besucher von Ostlondons beliebtester Touristenattraktion wurde und Kuchen bekam. Nigel kommt regelmäßig. Er arbeitet nicht oft und nirgendwo kann man so bequem auf Europas größte Baustelle schauen wie im „View Tube“.
Das Café aus alten Transportcontainern wurde auf der „Ausfallröhre Ost“ errichtet, dem vier Meilen langen Damm, in dem ein Abwasserrohr aus viktorianischer Zeit haarscharf am Olympiagelände vorbeiführt. Bis vor kurzem war der Fahrradweg das einzig Sehenswerte im postindustriellen Brachland bei Stratford in Ostlondon. Nun lockt „View Tube“ Schulklassen, Wandervereine und Touristen an.
Nigel weiß, warum: „Es ist unheimlich spannend, die Veränderungen auf der Baustelle zu verfolgen.“
Die Olympia-Fans im „View Tube“ verfolgen in diesen Tagen hautnah, wie zwischen Olympiastadion und Schwimmzentrum der „AcelorMittal Orbit“ in die Luft wächst, drei Meter pro Tag. Die 115-Meter-Konstruktion mit Aussichtsplattform von Künstler Anish Kapoor wird mit 1400 Tonnen Stahl gebaut, die Großbritanniens reichster Einwohner spendet, der Stahlunternehmer Lakshmi Mittal. Der Turm sieht aus wie ein Korkenzieher und ist gleichzeitig Großbritanniens größtes Kunstwerk.
London plant nämlich „Kreativspiele“, und der „Orbit“ ist genauso schräg wie das Olympia-Logo. An das haben sich die Briten gewöhnt, aber noch nicht der Iran. Der hält das Logo für eine Geheimbotschaft, die „Zion“ lautet und will die Spiele boykottieren. „Bleibt weg, wir vermissen euch nicht“, kommentierte Premier David Cameron. An Selbstbewusstsein fehlt es nicht.
Die Kreativspiele werden auch Ikea-Spiele. Wie der Orbit ist alles zusammengeschraubt und leicht zerlegbar. Der Orbit bleibt, auch das Olympiastadion. Wenn man die enorm strengen Sicherheitskontrollen um den Bauzaun überwindet, kann man sich auf einer Bustour von Designchef Jerome Frost erklären lassen, warum London die umweltfreundlichsten, recycelbarsten, architektonisch, sozial und finanziell nachhaltigsten Spiele veranstaltet, die es je gab.
Das Olympiastadion brauchte nur ein Drittel des Stahls normaler Stadien, weil die Serviceeinrichtungen einfach in flexiblen Fertigbauten ums Stadion herumgebaut wurden. Nach den Spielen wird die 80 000-Zuschauer- Arena in ein 40 000- Sitze-Stadion zurückgebaut und vom Fußballklub West Ham United übernommen. Das muschelförmige „Aquatic Centre“ wird von zwei riesigen, verglasten Zuschauertribünen in die Zange genommen. „Sie stören schon“, gibt Frost zu. „aber wenn sie wieder abgebaut sind, wird dies eines der schönsten Gebäude im Land.“
Olympiachef Sebastian Coe, vierfacher Goldmedaillengewinner im Mittelstreckenlauf, eilt nun im Anzug von Sitzung zu Sitzung, schürt Olympiabegeisterung, überwacht die Ausbildung von 75 000 freiwilligen Olympiahelfern und sorgt dafür, dass die 6,6 Millionen Karten verkauft werden. Coe ist Chef der Organisationsgesellschaft „LOCOG“, die wiederum die „Olympic Delivery Authority“ (ODA) mit der Vorbereitung der Infrastruktur beauftragt hat. Design-Chef Frost aber denkt schon weiter. Seine ODA wird den Stab an die „Olympia Park Legacy Company“ weitergeben, die nach den Spielen das Gelände in einen neuen, blühenden Londoner Stadtteil verwandeln soll.
Der Bus fährt an Handballhalle und Bio-Kraftwerk vorbei, dem Velodrom, das wie der „BMX-Circuit“ nach den Spielen den Radlern der Stadt zur Verfügung steht. Die Basketballhalle sieht in seiner Plastikhaut besonders schick aus, aber auch sie wird nach den Spielen abgebaut.
Stolz ist Frost auf den riesigen Erdhaufen hinter einem Bauzaun, das „Erd-Krankenhaus“. Zwei Millionen Tonnen in 100 Jahren Industrienutzung hochgradig verseuchter Erde wurden abgetragen, gewaschen, entgiftet und wiederverwendet. Der Fluss Lea, einst ein stinkendes Gewässer, sprudelt sauber durch den Park. Aber Frost und die ODA sind noch stolzer darauf, das alles innerhalb der Kostengrenze von 9 Milliarden Pfund blieb.
Nun müssen die Londoner nur noch moralisch vorbereitet werden. Aber auch das scheint bestens zu laufen. Debatten über Kosten und Extrasteuern sind vergessen. Als vorgeschlagen wurde, das Olympiastadion, um Folgekosten zu vermeiden, einfach ganz abzumontieren, gab es Proteste. „Die Menschen sehen jetzt, dass die Spiele Wirklichkeit werden“, freut sich Olympiaminister Jeremy Browne. Die Welt werde merken, „dass wir Briten nicht nur traditionell und förmlich sind, sondern modern, dynamisch, kreativ und gelassen im Einvernehmen mit unserer multikulturellen Gesellschaft.“
Sport spielt auch eine Rolle. Hier ist als Ziel gesetzt, Deutschland im Medaillenspiegel erneut zu schlagen und Schwimmstar Rebecca Adlington soll helfen, es zu erreichen: Vorgesehen ist, dass „Beck“ vier Goldmedaillen gewinnt.
Der Druck sei enorm, gibt die Schwimmerin zu. „Aber die Atmosphäre und der Jubel der Fans werden alles wegfegen.“
Matthias Thibaut, London im Tagesspiegel, Sonntag, dem 21. März 2011