Wilfried Jackisch beim Havellauf 2013 ©Helmut Winter
Deutschlands schnellster Alkoholiker – Wilfried Jackisch/Berlin – JoAnna Zybon in SPIRIDON
Ein Bier hat ungefähr fünf Prozent. Wilfried Jackisch hat und gibt immer hundert Prozent, beim Laufen wie auch sonst im Leben. 2013 imponierte er der läuferischen Konkurrenz als 62-Jähriger mit Leistungen wie Halbmarathon in 1:21 h und 10.000 m in 37 min. Seinen Beinamen (siehe Überschrift) wird er einfach nicht los, dabei hat er seit zehn Jahren keinen Tropfen Alkohol mehr angerührt.
Ob ich wohl 25 Runden im Stadion schaffe?“ – Das fragte sich der zehnjährige Junge, kurz nachdem seine Mutter ihn beim Zehlendorfer Sportverein „Z 88“ in der Leichtathletik-Abteilung angemeldet hatte. Der Junge hieß Wilfried Jackisch. Weil das Laufen für ihn das Schönste am Sport war, schnappte er sich seine Spikes und lief nach dem üblichen Leichtathletik- Training noch 10.000 m auf der Bahn.
Ganz allein, ganz für sich, ganz genau 25 Runden!
53 Jahre später blickt er zurück auf seine Laufbahn, das heißt, er bekommt die Aufgabe zurückzublicken und aus seinem intensiven Leben zu erzählen, weil seine Story einfach so gut ist und endlich mal aufgeschrieben werden muss. Wilfried nimmt die Offerte fröhlich an. Zum Interview bringt er ein alkoholfreies Bier mit. Bei der Begrüßung hält er es freudig hoch wie einen
Pokal – mit Pokalen kennt er sich aus, denn er hat viele Wettkämpfe gewonnen, u.a. 1984 den Mallorca-Marathon, 1983 den Berliner Triathlon, 1981 den Nürnberg-Marathon, 1980 den San-Mateo-Marathon und 1979 den Marathon durchs Alte Land.
Besonders gefreut hat er sich über den zweiten Platz beim Berlin-Marathon 1979. Wilfried wurde mehrmals norddeutscher Meister im Marathon und 25-km-Lauf, außerdem Berliner Meister in verschiedenen Langstrecken. 2011 wurde er mit Klaus
Goldammer und dem OSC deutscher Halbmarathon-Mannschaftsmeister in der M60 in Griesheim.
Für seinen wichtigsten Triumph gab es jedoch weder einen Pokal noch eine Urkunde: Den Sieg über seine Alkoholsucht.
Wilfried war seit seinen zwanziger Jahren ein exzessiver Biertrinker, er konnte an einem Abend schon mal 5 bis 8 l Gerstensaft konsumieren. „Ein Frustsäufer war ich allerdings nie“, stellt er klar, „ich war kommunikationsfreudig und der Typ, der immer mal lustig ein Bierchen zwischendurch genießt und abends als Letzter in der Kneipe durchhält.“ Auch in seinem eigenen Laufladen,
der in einem Kneipenviertel lag, wurden Biergläser geleert, das zog einerseits ein buntes und eigenwilliges Laufvölkchen an, andererseits vergraulte es manche Laufkundschaft.
Für seine konditionellen Leistungen, die er morgens nach einem Vollrausch vollbringen konnte, war Wilfried in der Berliner Laufszene bekannt. Viele wären gerne nüchtern so schnell gelaufen wie Wilfried Jackisch bei seinem „Alkoholverdunstungslauf“. Es kam vor, dass er direkt im Anschluss an eine durchgefeierte Nacht „im Zustand erhöhter Lebensfreude“ mit null Stunden Schlaf zu einem Wettkampf erschien. „Dann beschwerten sich die Läufer am Start über meine Alkoholfahne“ erinnert er sich, „zum Beispiel 1983 beim 25-km-Lauf der Winterlaufserie des BSV 92.“ Als Startmusik ertönte „99 Luftballons“ von Nena. Wilfried machte seine Faxen zur Musik und lief die 25 km in heiteren 1:34 h.
Schnapsdatum als Wendepunkt
Zur Umkehr suchte der Biertrinker sich ein Schnapsdatum aus: Sonntag, den 4.4.04. An diesem Tag absolvierte er den Berliner
Halbmarathon. Die liquiden Exzesse kurz vor der endgültigen Läuterung: „Freitag war Vollrausch, 8 bis 10 Liter Bier. Samstag Aufguss, also nur 6 Bier. Sonntag Halbmarathon in 1:21 h, im Ziel bin ich direkt in den Berliner-Kindl–Stand reingefallen, damals natürlich nicht alkoholfrei. Hab mir die Kante gegeben, Taxe nach Hause genommen, unterwegs noch bei der Stammkneipe
angehalten, später zu Hause mit Blessuren wachgeworden.“
Noch am selbigen Tag beschließt er, für immer abstinent zu werden.
Nun ist er seit fast zehn Jahren trockener Alkoholiker. Wie hat er das geschafft? „Ich habe mir für 16 Wochen einen ambulanten Therapieplatz im Tannenhof organisiert, das ist ein bekanntes Berliner Suchttherapiezentrum. Außerdem habe ich mir ja vorgenommen: Ich trinke jetzt nicht mehr. Dieser Entschluss war felsenfest. Und besonders in dieser schwierigen
Alkoholtherapie-Phase wurde das Laufen zum Lebenselixier für Körper, Geist und Seele. Ich lief täglich, das Laufen
half mir, dem Saufdruck zu widerstehen.
Zwei Wochen nach dem letzten Absturz lief ich den Hamburg-Marathon unter drei Stunden.“
In der Rückschau unterteilt Wilfried sein Leben in trockene und nasse Phasen. „Das Laufen hat mich auch in der nassen Phase vor Schaden bewahrt, insbesondere vor dem Abgleiten in schlimmere Exzesse. Durch das Training habe ich den Alkohol schnell aus dem Körper rausgekriegt, außerdem manchmal vor wichtigen Wettkämpfen monatelang auf Alkohol verzichtet.“
Verbesserung ohne Alkohol
Der sportliche Ehrgeiz motivierte ihn 1983 zu einer Phase des Anti-Alkoholismus, als Belohnung feierte er vier große Erfolge kurz hintereinander: Im März 1. Platz beim Berliner Triathlon, nur drei Wochen später 2:19:05 h bei den Deutschen Marathon-Meisterschaften in Dülmen, nur eine Woche später 25-km-Bestzeit in Berlin, nur einen Monat später Marathon-Bestzeit in Frankfurt.
Existentieller als sportliche Erfolge empfindet Wilfried jedoch das Entspannungspotential des Laufens. Die vitalisierenden Laufeffekte hat er so bewusst durchlebt, dass er sogar schon mit einer Ausbildung zum Lauftherapeuten liebäugelte. Als „Botschafter des Laufens“ ist er jedenfalls sehr authentisch und nutzt die Laufeffekte bei seiner Arbeit als Projektentwickler für „Laufen für die Seele“: Er betreut und organisiert Laufgruppen für Behinderte bei der Union Sozialer Einrichtungen.
Seine früheren Berufe waren Versicherungsvertreter, Vertriebsmanager auf Märkten, Laufladenbesitzer. Zwischendurch wanderte der lebensfrohe Optimist mal nach Brasilien, mal nach Kalifornien aus. Er arbeitete für „Berlin läuft“ und konzipierte zusammen mit einem befreundeten Künstler ulkige Lauf-T-Shirts.
Seine Kreativität offenbart der Genussmensch auch beim Training. Er spult seine 80 Wochen-km keineswegs runter, sondern verteilt sie quietschfidel auf Erledigungsläufe, „Park-Hopping“ und „Trek-Hopping“ und „garminiert“ fortwährend neue Laufstrecken. In der Vorbereitung auf den letzten Berlin-Marathon organisierte der humorvolle Scout Gruppenläufe von Werder oder Caputh nach Berlin.
Konzept: mit der S-Bahn rausfahren und 40 km pittoresk in die Stadt zurücklaufen. Das wird er auch vor dem nächsten Berlin-Marathon wieder exerzieren, den er deutlich unter 2:58 h laufen will. Zunächst stehen aber sein Lieblingslauf BIG 25 und
der Airport-Run auf dem Zettel. Seine Laufstrecken teilt Jackisch kommunikativ, übrigens gerne mit anderen.
Über Anfragen oder einen persönlichen Austausch zum Suchtthema würde er sich freuen.
JoAnna Zybon in SPIRIDON – März 3/2014
SPIRIDON Laufmagazin
Steckbrief Wilfried Jackisch:
* 10.9.1951 Berlin – Ledig, 2 Kinder (Sohn 32 Jahre, Tochter 12 Jahre)
Körpergröße: 1,80 m – Gewicht: 65 kg
1971-74 Lehre als Industriekaufmann in Wolfsburg
1972 1. Marathon in Dudenhofen, 2:27:55 h (Deutsche Meisterschaften, 35. Platz)
1976 Fachabitur in Berlin
1984-90 Laufladen „Run for Fun“
50 Marathons insgesamt, davon 25 in Berlin
Mitglied im BERLIN-MARATHON-Jubilee-Club, persönliche Start-Nr. 1711
Aktueller Verein: LC Marathonia Berlin
Seit 1982 Vegetarier
Motto: Run for Fun – ein Leben lang!
Bestzeiten:
1.000 m = 2:30 min, 1971 Hamburg
1.500 m = 3:48 min, 1977 Berlin
2.000 m = 5:16:4 min, 1979 Berlin
3.000 m = 8:06 min, 1977 Berlin
5.000 m = 13:53 min, 1977 Aarhus, DEN
10.000 m = 29:35 min, 1973 Bonn
Stundenlauf = 19.137 m / 1975
15 km = 45:49 min, 1982 Verden
HM = 1:07:07 h, 1990 Berlin
25 km = 1:19:17 h, 1983 Berlin
Marathon = 2:18:52 h,1983 Frankfurt (15.)
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