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30
05
2015

2014 Glascow Diamond League Glascow, Scotland July 11-12, 2014 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET

Deutsche Werfergilde – Die Riesen und die Hummel – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Der Weltmeister kam in der Businessclass vom Persischen Golf eingeflogen, einen Scheck über 10.000 Dollar für seinen ersten Sieg der Saison in der Tasche. Die Entdeckung des Jahres dagegen reiste mit der Familie im Auto aus Berlin an.

Beide, Kugelstoßer David Storl und Diskuswerfer Christoph Harting, überragten am Samstag bei den Halleschen Werfertagen, dem jährlichen Festival der Wurf- und Stoßdisziplinen an der Saale. Die brodelnde Veranstaltung mit einem Dutzend dicht umlagerter Wurfanlagen wirkt stimulierend.

Storl übertraf seine Siegweite vom Auftakt der Diamond League am Vorabend in Qatar um 21 Zentimeter und krönte eine Serie von fünf Versuchen von mehr als 21 Metern mit der Siegweite von 21,72 Metern. Harting 2.0, der sechs Jahre jüngere Bruder von Weltmeister und Olympiasieger Robert Harting, steigerte seine erst eine Woche alte Bestleistung auf 67,93 Meter und gewann damit das Diskuswerfen.

Der Wettbewerb war praktisch eine Familienangelegenheit. Bei den Frauen siegte Julia Fischer, die Lebensgefährtin von Robert Harting. Dieser, am Knie verletzt, konzentrierte sich darauf, die beiden anzufeuern.

Der eifrige Storl

Erst 24 Jahre alt sind die beiden Riesen-Athleten Storl und Harting. Storl, 1,98 Meter lang, ist dennoch so etwas wie der Altmeister. Bei zwei Weltmeisterschaften, zwei Europameisterschaften und der Silbermedaille der Olympischen Spiele von London fehlt ihm allein der Olympiasieg für eine vollendete Karriere. Und doch arbeitet er in jedem Winter hart dafür, noch besser zu werden als in der Saison zuvor.

Das soll bis mindestens 2020 so weitergehen, den Spielen in Tokio. „Wer heute zugesehen hat, dem ist klar, dass die 22 Meter in einem der nächsten Wettkämpfe fallen werden“, resümierte zufrieden Storls Trainer Sven Lange. Die Weite, um die sein Athlet im vergangenen Jahr beinahe verzweifelt kämpfte, scheinen die beiden bereits gedanklich abgehakt zu haben. Mehr als einen halben Meter hat Storl seine Leistung im Vergleich zum Saisonauftakt des vergangenen Jahres gesteigert.

Auf dem Weg zu einer magischen Marke: Kugelstoßer David Storl

Zu den verflixten 22 Metern, die ihm vor einem halben Jahr noch schlaflose Nächte bereiteten und fast die Europameisterschaft in Zürich verdarben, sagt er nun gelassen: „Die rutschen irgendwann raus.“ Wie das so ist bei einem Athleten im sportlichen Jetset, steht der Durchbruch demnächst in Eugene (Oregon) oder Rom zu erwarten – oder in Schönebeck in Sachsen-Anhalt.

Stoßen mit Schmerzen

Dabei geht Storl seinem Gewerbe unter Schmerzen nach. Am Ende der vergangenen Saison musste er sich wegen einer chronischen Entzündung an der Patellasehne des linken Knies operieren lassen. „Die OP war nicht so toll“, sagt er. Der Umspringer am Ende seines Stoßes, eine Art Nachbrenner, der einen Stemmschritt mit dem linken Bein voraussetzt, ist wegen der Schmerzen nicht mehr möglich. „Ich glaube nicht, dass das überhaupt noch mal geht“, sagt Storl.

Könnte er die inzwischen sieben Jahre anhaltende Entzündung nicht mit einer Pause auskurieren? „So viel Zeit habe ich nicht“, erwidert der junge Champion. „Das Ziel in diesem Jahr ist, bei der WM den Titel zu verteidigen. Und im nächsten Jahr ist schon Olympia.“ Bis auf weiteres bestreitet Storl Training und Wettkämpfe unter Schmerzen und Schmerzmittel.

In dieser Lage passt Lange die Frage nach dem Weltrekord – seit bald 25 Jahren hält ihn mit 23,12 Metern der zweimal des Dopings überführte Amerikaner Randy Barnes – gar nicht. „Noch reden wir über 22 Meter“, sagt der Trainer, räumt dann aber ein: „Ich kann mich nicht hinstellen und sagen, unter normalen Umständen stößt David den Weltrekord nicht, und dann tut er es doch – wie komme ich dann aus der Geschichte wieder raus? Aber im Moment ist das kein Thema.“

Harting füllt die Harting-Lücke

Da ist der junge Harting wesentlich unbefangener. Vor einer Woche erst machte der Hüne von 2,05 Meter Körpergröße in Wiesbaden von sich reden, nun erzielte er in Halle den nächsten weltweit weitesten Wurf des Jahres: fast 68 Meter. Und antwortet auf die Frage nach seinem großen Ziel: „Ich will dort hin, wo niemand hinkommt. Achtzig Meter.“

Die selbstbewusste Gelassenheit, mit der er das sagt, wird abgelöst von einem herzlichen Lachen, mit dem er einen Sportwissenschaftler aus Leipzig zitiert. Dieser hat errechnet, dass die Physik dem Flug des Diskus etwa zweieinhalb Meter vorher ein Ende setzt.

Den Weltrekord von 74,08 Meter hält seit 28 Jahren der heutige Bundestrainer Jürgen Schult, und mehr noch als auf das Doping jener Zeit verweist, wer sich auskennt, auf die Umstände des Wettbewerbs damals in Neubrandenburg: Man warf auf einer windigen Wiese. Gerd Kanter, Olympiasieger von Peking 2008 und Weltmeister von Osaka 2007, betrieb jahrelang das „Projekt 75“ – und näherte sich dieser Marke nicht einmal anderthalb Meter.

Der neue Harting, so scheint es, will nicht nur das Unmögliche erreichen, sondern sogar um fünf Meter übertreffen. Zur Wissenschaft sagt der rothaarige Riese so viel:

„Für eine Hummel ist es unmöglich, zu fliegen. Haben Physiker errechnet.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 17. Mai 2015

author: GRR

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