Chefbundestrainer Jürgen Mallow machte sich in Nürnberg zeitweise frei vom Stress des Nominierens und Wägens und setzte sich, wie er glücklich erzählte, unter die eher fachfremden der rund 14 500 Zuschauer, die jeweils am Samstag und am Sonntag ins Stadion gekommen waren. "Die haben Freude am Wettkampf gehabt", berichtete er von der Basis
Der Traum von Olympia endet im Meistertitel – Nicht nur 800-Meter-Läufer Schembera scheitert in Nürnberg an der Norm – trotz gemeinsamer Anstrengung – MICHAEL REINSCH in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
NÜRNBERG. So kann man die deutsche Meisterschaft auch angehen. "Hallo, ich bin Robin Schembera", grüßte das große Talent im 800-Meter-Lauf von den Großbildschirmen im Nürnberger Stadion. "Steffen Co, René Herms und ich wollen heute versuchen, die Olympianorm zu laufen."
Zumindest für dieses Rennen um das Ziel Peking war die Konkurrenz ausgeschaltet. Bei dem "Komplott" assistierte der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV), indem er neben dem sechsmaligen deutschen Meister Herms und dem schnellsten Deutschen des Jahres, dem neunzehnjährigen Schembera, auch Olympiasieger Nils Schumann in diesen Vorlauf schickte. Bundestrainer Jürgen Mallow übernahm es, den Dortmunder Steffen Co aufs Tempomachen zu verpflichten.
Schembera verlor – jedenfalls im Tempolauf am Samstag. Schlimmer als von Herms und Schumann überspurtet zu werden, war für ihn der Abschied von seinem Traum, den Olympischen Spielen. Als Dritter blieb er in 1:48,33 Minuten fast drei Sekunden über der vom Deutschen Olympischen Sportbund geforderten Norm von 1:45,50; auch Herms und Schumann konnten sich nicht empfehlen.
Am Sonntag dann gab es für den wütenden Schembera kein Halten: Im Spurt auf der Zielgeraden rang er Herms nieder und gewann – in 1:51,47 Minuten – seinen ersten Titel bei den Senioren.
"16 Hundertstel, das ist eigentlich nichts", sagte Schembera über seine gescheiterte Olympia-Qualifikation. "Aber Peking ist für mich gegessen." Das Scheitern ist umso bitterer für ihn, als er die nicht ganz so strenge A-Norm des Internationalen Leichtathletik-Verbandes von 1:46,00 Minuten am Wochenende zuvor in Biberach als Zweiter hinter Olympiasieger Juri Borsakowski um 34 Hundertstelsekunden unterboten hatte. "Ich frage mich, warum es für uns nicht auch eine B-Norm gibt, die ausreicht, wenn einer das ganze Jahr lang die beste Zeit hat", schimpfte Schembera.
Er versteht auch nicht, dass die Normzeit im Vergleich zu Sydney 2000 und Athen 2004 von 1:46,2 über 1:46,0 gleich um eine halbe Sekunde verschärft wurde. "Utopisch" findet Schembera das. Zumal die Norm für die Weltmeisterschaft in Berlin im kommenden Jahr auf 1:45,4 sinken soll, obwohl Alfred Kiwa Yego sich bei seinem WM-Titelgewinn in Osaka 2007 zweieinhalb Sekunden mehr Zeit nahm. "Ich versteh' das alles nicht", sagte der junge Läufer. "Aber man muss sich dem beugen."
Chefbundestrainer Jürgen Mallow machte sich in Nürnberg zeitweise frei vom Stress des Nominierens und Wägens und setzte sich, wie er glücklich erzählte, unter die eher fachfremden der rund 14 500 Zuschauer, die jeweils am Samstag und am Sonntag ins Stadion gekommen waren. "Die haben Freude am Wettkampf gehabt", berichtete er von der Basis. "Sie haben selbst Disziplinen, die ich im internationalen Vergleich kritisch sehen muss, als spannend erlebt."
Doch Mallow ist überzeugt davon, dass der Vergleich der Leistungen einer deutschen Meisterschaft mit denen internationaler Wettkämpfe ungerecht sei. "Die Zuschauer haben den Wettkampf zwischen Steffi Nerius und Christina Obergföll als spannendes Duell erlebt", sagte er, "und nicht gejammert, dass sie ein paar Meter hinter ihren Bestleistungen geblieben sind."
Steffi Nerius wurde am Sonntag vom DLV mit dem Rudolf-Harbig-Gedächtnispreis geehrt.
Bei aller Freude über die Leistungen von Kugelstoßerin Nadine Kleinert (19,67 Meter), von Hochspringerin Ariane Friedrich (2,00 Meter) und Diskuswerfer Robert Harting (66,26 Meter), über das hochkarätige Weitsprung-Duell zwischen Sebastian Bayer und Nils Winter (8,15:8,08 Meter) und das Spektakel, für das die Stabhochspringer sorgten, gab es auch schlechte Nachrichten.
Die Weitspringerin Bianca Kappler erlitt beim Aufwärmen einen Riss der Archillessehne – adieu Peking. Die beiden einzigen für die Spiele qualifizierten Läufer des DLV, Tobias Unger und Carsten Schlangen, haben gesundheitliche Probleme. Unger berichtete nach seinem Sieg über 100 Meter (10,20 Sekunden), dass er unter akuter Schlaflosigkeit leide, möglicherweise wegen hohen Blutdrucks.
Schlangen musste seine Titelverteidigung über 1500 Meter absagen, weil er wohl eine Lebensmittelvergiftung erlitten hatte. Den Titel gewann Stefan Eberhardt in 3:41,54 Minuten. Vermutlich, weil in Nürnberg internationaler Maßstab auch im 5000-Meter-Lauf nicht angelegt wurde, fehlte Jan Fitschen. Der Europameister über 10 000 Meter will seine letzte Chance nutzen, sich für die 5000 Meter zu qualifizieren: am 20. Juli in Heusden in Belgien.
Bezahlte Tempomacher und internationale Top-Läufer werden das Rennen schnell machen.
MICHAEL REINSCH in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 7. Juli 2008