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25
08
2008

Seit Jahren schon ist Jeremy Wariner das Mysterium der Leichtathletik, bisher allerdings war er es wegen seiner ständigen Siege.

Der Mann ohne Eigenschaften – Der hohe 400-Meter-Favorit Jeremy Wariner ist ein Mysterium der Leichtathletik – nun rätselt die Fachwelt über seine Niederlage im Finale – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

Er hat wieder diese Maske auf, die sein Gesicht ist. Jeremy Wariner aus Waco in Texas, der entthronte König der Viertelmeiler, zeigt keine Regung. Gerade hat er das wichtigste Rennen der Saison verloren, das olympische 400-Meter-Finale in Peking, gegen seinen Landsmann LaShawn Merritt.

Nüchtern gibt Wariner seine Kommentare ab. Er wirkt so kontrolliert, als gebe es in ihm drinnen kein Gefühl, das verletzt werden könnte. ?Ich bin enttäuscht?, sagt Jeremy Wariner. ?Ich bin glücklich mit meiner
Silbermedaille?, sagt Jeremy Wariner. Und beides klingt gleich. Enttäuscht? Glücklich? "Man kann es auf beide Arten sehen", sagt er, immerhin sei es wieder ein amerikanischer Dreifach-Erfolg. Dank David Neville, der ihn auch noch fast erwischt hätte. Jeremy Wariner spricht vom Staffelfinale an diesem Samstag. Darauf müsse er sich nun konzentrieren.

Seit Jahren schon ist Jeremy Wariner das Mysterium der Leichtathletik, bisher allerdings war er es wegen seiner ständigen Siege. Mit 20 Jahren wurde er Olympiasieger, mit 21 Weltmeister, mit 23 nochmal. Und seine 43,45 Sekunden, mit denen er 2007 bei der Weltmeisterschaft in Osaka die Goldmedaille gewann, brachten ihn auf Platz drei der ewigen 400-Meter-Bestenliste. Lobbyisten erhofften sich von ihm einen neuen Weltrekord, den seit neun Jahren Wariners Manager Michael Johnson mit 43,18 Sekunden hält.

Kritiker verbanden mit seinen Läufen über die härteste Sprintdistanz die Raffinesse modernster Dopingpraxis, weil er im Ziel nie die geringste Erschöpfung zeigte. Aber jetzt rätselt die Branche. Wariner ist immer noch erst 24, in seinen besten Jahren also, aber seit dieser Saison verliert er.

Ende Juni ging es los, als LaShawn Merritt ihn beim Golden-League-Auftakt in Berlin überraschte, bei den US-Trials in Eugene nahm Merritt ihm seinen nationalen Meistertitel ab. Nun hat er ihn auch noch bei Olympia auf den Silberrang verwiesen mit 43,75 zu 44,74 Sekunden, und obwohl das nichts am amerikanischen Dreifach-Erfolg änderte, steht Wariners Silber symbolhaft für all die kleinen Favoritenstürze, die den großen Favoritensturz des Teams USA ausmachen. Denn ungewohnt medaillenarm geht der Leichtathletik-Riese ins letzte Wochenende der Spiele. Auf Rang drei der Disziplin-Wertung nur, und viele amerikanische Peking-Geschichten lesen sich wie eine Pannenstatistik.

Weltmeister Bernard Lagat scheiterte im 1500-Meter-Halbfinale, Hürdensprint-Favoritin Lolo Jones stolperte über die vorletzte Hürde, alle Sprints gingen gegen Jamaika verloren, 400-Meter-Königin Sanya Richards brach auf der Zielgeraden ein. Und am Donnerstag verloren die Sprintteams von Frauen und Männern in ihren Vorläufen jeweils den Staffelstab, worauf Doug Logan, der Geschäftsführer des Verbandes US Track & Field, eine schriftliche Erklärung abgab: "Ich habe viele E-Mails bekommen. Sie alle sagen mehr oder weniger dasselbe. Die fallengelassenen Staffelstäbe spiegeln eine fehlende Vorbereitung, fehlenden Professionalismus und Führerschaft. Ich stimme zu."

Wariners Niederlage ist eine ganz andere Geschichte, eine viel seltsamere.
Mit seiner Schnelligkeitsausdauer hat er sonst immer seine Konkurrenz düpiert, in Peking schien die nur noch für 300 Meter zu reichen. ?Als ich nach der Kurve meinen entscheidenden Vorstoß zu setzen versuchte, war er
einfach nicht da, warum auch immer?, sagt Wariner. Es gibt keine Berichte von Störungen im Formaufbau, Verletzungen, Krankheiten. Nur einen Trainerwechsel musste Wariner im Januar vollziehen, nachdem er und der 74-jährige Clyde Hart sich nicht auf einen neuen Vertrag einigen konnten.

Aber die Veränderung taugt nicht als Erklärung, zumindest nicht für Wariner. Fragen nach seinem neuen Coach Michael Ford, 34, nerven ihn. "Coach Ford hat die gleiche Philosophie wie Coach Hart", sagte Wariner und
konnte das belegen: Ford war einst Harts Assistent an der Baylor-Universität.

Noch etwas spricht dagegen, dass Hart Wariner mehr hätte helfen können: Hart-Schülerin Sanya Richards zeigte in Peking genau die gleiche Schwäche wie Wariner. Fast hat man den Eindruck, im US-Team hätte irgendjemand ein paar wichtige Energieleitungen gekappt. Vielleicht die amerikanische Antidoping-Agentur Usada? Vorerst ist nur klar, dass Wariners Ruf in diesem Jahr gelitten hat. In der Los Angeles Times sagte er zu seinem Trainerwechsel: "Ich habe das nicht gemacht, um ein paar Dollar zu sparen, sondern weil ich den Eindruck hatte, es wäre Zeit für einen Wechsel." Hart widersprach: Wariner habe ihm einen Vertrag angeboten. "Ich habe Kopien davon, falls jemand nicht glaubt."

Wariner stand da wie ein bornierter Geizhals.

Nun verliert er und gewinnt nicht einmal Sympathien dabei. Wariner war ein Gewinner ohne Eigenschaften, jetzt ist er ein Verlierer ohne Eigenschaften. Sein Blick ist kalt, seine Rede starr, und neben LaShawn Merritt sieht er
besonders unscheinbar aus. Merritt, 22, ist ein charismatischer Mann, der eine Geschichte mitbringt auf die Bahn. Sein Bruder Antwan starb vor neun Jahren bei einem Schulunfall. Den Verlust kompensierte LaShawn Merritt mit seinem Leichtathletik-Training. Jeremy Wariner hat keine Geschichte. Er hat nur eine Niederlage, mit der er nichts anfangen kann. ?"h weiß nicht, was das war", sagt Jeremy Wariner "aber ich muss es abhaken."

Und er hat immer noch diese Maske auf, die sein Gesicht ist.

Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Freitag, dem 23. August 2008

author: GRR

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