
Die Teilnehmer umrunden einen Sportplatz ©Horst Milde
Der kleine Bruder vom Berlin-Marathon oder ein Lauf in die Sonne – Dr. Erdmute Nieke berichtet
Wumm, ein schweres Eisentor fällt hinter uns zu, vor uns zwei massive Eisengittertore, verschlossen. Wir stehen am 7. Oktober 2016, pünktlich um 14.30 Uhr, in der Sicherheitsschleuse der JVA Plötzensee in Berlin.
Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben im Gefängnis. Mit mir warten noch weitere 15 Menschen auf den Personencheck. Wir alle sind Helfer*innen oder externe Teilnehmer*innen am „3. Berliner 10 km Lauf für Gefangene“.
Meine Lauffreunde Oda und Manfred sind in der Berliner Marathonszene dafür bekannt, dass man bei ihnen am Versorgungsstand bei km 34,5 auf dem Kurfürstendamm gerührte Cola gereicht bekommt. Dieses Spezialgetränk hatte mir knapp zwei Wochen vorher Kraft für die restlichen Kilometer bis zum Brandenburger Tor gegeben.
Nun steht Oda neben mir in der Sicherheitsschleuse und ist vollkommen gelassen. Sie ist nicht zum ersten Mal Helferin beim Gefängnislauf, ich schon.
Foto: Horst Milde
Bald stehen wir im Gefängnishof und werden von Horst Milde begrüßt, dem Begründer des Berlin-Marathons im Jahr 1974. Nun organisiert der inzwischen 77-Jährige den Gefängnislauf schon zum dritten Mal, dieser Lauf ist für etliche Menschen wichtiger als der Berlin-Marathon, der kleine Bruder des großen: 54 statt 36.054 Teilnehmer, 10 statt 42,195 Kilometer.
Die nächste Begrüßung ist ebenso herzlich: Die Siegerin des vorjährigen Gefängnislaufes ist auch schon da. Als Freigängerin ist sie in diesem Jahr allein zum Wettkampfort gekommen. Sie ist unglaublich aufgeregt und muss noch über eine Stunde auf den Start warten. Ich versuche sie mit einem Fachgespräch über das Lauftraining abzulenken. Wahnsinn, sie trainiert vier- bis fünfmal die Woche, das schaffe ich nicht.
Jetzt beginnt die Aufteilung der Helfer. Eigentlich sollte ich mit Oda den Läufer*innen das Wasser reichen, doch Horst Milde schickt mich kurzfristig zu den Kampfrichtern. Es werden noch Rundenzähler benötigt. Der Gefängnishof wirkt eigentlich viel zu eng für einen Langstreckenlauf. Erst nach und nach begreife ich, dass extra für den Lauf ein Zwischentor geöffnet wird und so eine 1-km-Strecke entsteht. Also müssen für Jeden zehn Runden nachgezählt werden, ganz ähnlich wie beim Coopertest oder 12-Minuten-Lauf.
Die Laufstrecke liegt übrigens direkt hinter der Gedenkstätte Plötzensee, in der „zwischen 1933 und 1945 fast 3000 Menschen nach Unrechtsurteilen der NS-Justiz hingerichtet wurden.
Der Raum, in dem die Hinrichtungen stattfanden, ist heute Gedenkraum.“ (https://www.gedenkstaette-ploetzensee.de/index.html, 17.10.2016). Zu den Opfern gehört auch Helmuth James Graf von Moltke, der am 23. Januar 1945, als Mitglied des Kreisauer Kreises, nebenan hingerichtet wurde. Sein Sohn wird uns im Rahmen der Hermannswerderaner Abende am 7. April 2017 besuchen und über seinen Vater und dessen Widerstand gegen den Nationalsozialismus berichten. Doch zurück in die Gegenwart.
Allmählich füllt sich der Gefängnishof. Eine Live-Band sorgt für gute Stimmung, heißer Tee hilft gegen Kälte und graue Wolken, immerhin regnet es nicht mehr wie am Vormittag. Aus allen Berliner und Brandenburger Gefängnissen treffen gruppenweise die Läufer*innen ein. Bei der Startnummernausgabe entsteht sogar eine Schlange. 40 Läufer*innen sind da und dazu 14 externe Läufer*innen.
Dazwischen stehen Jusitzbeamte und unterhalten sich angeregt, ich merke, dass auch sie sich zu diesem Laufevent treffen.
Pünktlich um 16 Uhr stehen alle 54 Läufer*innen am Start. Es wird runter gezählt und los geht es. Ich stehe mit einem Brett und einer Tabelle, auf der ich jede Rundenzeit „meiner“ fünf Läufer, die ich zu zählen habe, verzeichnen muss (Foto: ich stehe hinter dem Startbanner). Eigentlich wollte ich die Vorjahressiegerin anfeuern, doch als Kampfrichterin darf ich das nicht, ich muss neutral sein.
Foto: Horst Milde
Doch dafür kommt jetzt sogar die Sonne zwischen den Wolken durch und lässt die Stacheldrähte auf den Mauern erleuchten und gibt uns etwas Wärme. Die Läufer kämpfen mit jeder Runde, T-Shirts werden ausgezogen und den Trainern zugeworfen, Jacken geöffnet, der Schweiß rinnt. Der Sieger läuft bereits in die Zielrunde als einer „meiner“ Läufer gerade mal die halbe Strecke geschafft hat und „unsere“ Vorjahressiegerin gewinnt wieder! Jubel, Freude, Erschöpfung. Das Feld der Sieger wächst. Denn beim Laufen ist Jeder, der ins Ziel kommt, ein Sieger. Genau wie beim Berlin-Marathon stehen alle Sieger in gelbe Folien verpackt um sich gegen die Kälte zu schützen.
Bei der Siegerehrung werden Pokale geküsst, da wird gejubelt und da werden die Sieger der Sieger über den Gefängnishof getragen. Denn die Endorphine wirken auch schon nach 10 Kilometern und auch auf einem von der Sonne beschienenen Gefängnishof.
Mit einem Läufer philosophieren wir über seine mögliche Teilnahme am Berlin-Marathon 2018. Heraus zu hören ist seine große Hoffnung auf Freiheit. Die Endorphine des Lauftrainings im Gefängnis helfen mit Aggressionen und Depressionen besser umzugehen. Der Berliner Gefängnislauf leistet so einen wichtigen Beitrag zur Resozialisierung der Gefangenen.
Mir bleiben zwei Wünsche für ein Wiedersehen mit den Läufer*innen: 2017, beim 4. Berliner Gefängnislauf und irgendwann draußen in Sonne und Freiheit beim Berlin-Marathon!
Dr. Erdmute Nieke
PS: Der 4. Berliner 10 km-Lauf für Gefangene in der JVA Plötzensee findet am Freitag, dem 13. Oktober 2017 um 15.00 Uhr statt. Externe Läufer und Helfer sind wieder herzlich willkommen. Die Anmeldeformalitäten werden rechtzeitig hier veröffentlicht.
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