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19
04
2017

Dr. Dr. med. Lutz Aderhold - Dehnen (Stretching) - wann und wie? - ein Update ©privat

Dehnen (Stretching) – wann und wie? – ein Update – Dr. Dr. med. Lutz Aderhold

By GRR 0

Stretching im Langstreckenlauf ist kein absolutes MUSS. Die Meinungen über das ob, wie und wann gehen weit auseinander. In den letzten Jahren haben neuere Forschungsergebnisse zum Überdenken von althergebrachten Vorstellungen geführt (Freiwald 2009).

Trotzdem muss festgehalten werden, dass viele Fragen noch offen sind. Bisher gibt es jedenfalls keine eindeutigen Studien über die Wirksamkeit von Stretching zur Verletzungsprophylaxe oder Leistungssteigerung. Sportler können nämlich auf Dehnungen individuell sehr unterschiedlich reagieren.

Man muss davon ausgehen, dass Konditionsdefizite durch Dehnen nicht ausgeglichen werden können. Auch die Dehnwirkung als Regenerations-Beschleuniger ist nicht bewiesen (Werth 2012; Ce et al. 2013; Vounatsos 2014). Wissenschaftlich belegte Effekte von Stretching sind (Anderson 2000; Schönthaler u. Ohlendorf 2002):

–        eine vergrößerte Bewegungsamplitude und

–        die kurzfristige Reduktion der Muskelspannung

Die meisten Läufer leiden unter einer verhärteten Oberschenkel- und Wadenmuskulatur. Dadurch wird die Schrittlänge verkürzt und die Laufökonomie negativ beeinflusst. Dehnen (Stretching) verbessert die Flexibilität und Elastizität dieser Muskelgruppen. Allerdings wird die Beweglichkeit auch durch Knochen, Kapseln, Bänder und Nerven begrenzt.

Anatomisch werden in der Muskulatur weder die Aktin- noch Myosinfilamente gedehnt, sondern in erster Linie die Titinfilamente. Bei der Verkürzung oder Verlängerung der Muskulatur kommt es im Bereich der Muskel-Sehnenübergänge zu einer Ab- bzw. Zunahme der in Serie geschalteten Sarkomere. Gedehntes Gewebe zeigt ein typisch viskoeleastisches Verhalten. Es kommt zu Verformungen des Muskel-Sehnengewebes, die nur kurze Zeit anhalten und sich dann wieder zurückbilden.

Durch Dehnungen über einen längeren Zeitraum erhöht sich der Dehnungswiderstand, da es zu einer Festigung des Bindegewebes kommt. 

Dehnungen sollten nicht generell, sondern unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen und Zielsetzungen in Sport oder Therapie durchgeführt werden. Es gibt Hinweise, dass statisches Dehnen vor der Laufeinheit die Verletzungswahrscheinlichkeit steigert und die Leistungsfähigkeit verschlechtert (Behm u. Chaouachi 2011). Vor dem Laufen müssen Sie sich nicht dehnen.

Allerdings gibt es Hinweise, dass dynamisches Dehnen beim Warm-up die Laufleistung  verbessern kann (Behm u. Chaouachi 2011; Yamaguchi et al. 2015). Wenn Sie sich durch Dehnungen besser fühlen und den Eindruck haben dann lockerer zu laufen, dann dehnen Sie und verwenden dynamische Dehnübungen zum Aufwärmen. Anders als früher angenommen, werden durch dynamische Dehnungen weder Verletzungen noch Reflexe ausgelöst. Das langsame Einlaufen als Warm-up kann aber nicht durch Dehnungen gleichwertig ersetzt werden (Vounatsos 2014).

Erwärmtes Gewebe besitzt eine bessere Dehnfähigkeit. Stretching (statisches Dehnen) wird deshalb nach der Warmlaufphase (in der kalten Jahreszeit wegen der Erkältungsgefahr nicht ratsam) oder besser nach dem Training durchgeführt. Es ist viel wirksamer als Teil des „Cool downs".

Erfahrene Läufer, Trainier und Physiotherapeuten können tagtäglich von den günstigen Wirkungen auf verkürzte Muskeln berichten. Durch die Dehnung wird die Muskulatur im Tonus vermindert und flexibler. Eine regelmäßig gedehnte Muskulatur besitzt einen größeren Bewegungsumfang, die Muskelfunktion und die Schrittlänge werden dadurch optimiert. Dehnen nach dem Sport entspannt den Muskel-Sehnen-Komplex, fördert damit die Durchblutung, vermindert die neuromuskuläre Erregbarkeit und hat auch einen beruhigenden Einfluss auf das vegetative Nervensystem. Stretching verbessert das Wohlbefinden und das Körpergefühl. Der Sportler fühlt sich nach dem Dehnen einfach „lockerer".

Unsere Zeit ist gekennzeichnet durch sitzende Tätigkeiten und Bewegungsmangel, was zu Muskelverkürzungen und Dysbalancen führt. Hypertrophe Muskeln haben eine erhöhte Ruhespannung und neigen daher zur Verkürzung. Der jeweilige Gegenspieler (Antagonist) neigt zur Abschwächung was zu einer Dysbalance mit folgenden Gelenkproblemen führen kann. Je mehr Dysbalancen vorliegen umso anfälliger wird man auch für Verletzungen. Behandelt wird eine muskuläre Dysbalance durch Dehnung der verkürzten Muskeln und eine Kräftigung der abgeschwächten Muskeln.

Ein Muskelungleichgewicht wird beim Sportler sehr häufig festgestellt. Die Folgen sind vermehrte Muskelzerrungen und Sehnenansatzbeschwerden. Allerdings steht der wissenschaftliche Nachweis der Abnahme der Verletzungshäufigkeit durch regelmäßiges Dehnen immer noch aus (Herbert und Gabriel 2002, Witvrouw et al. 2004). Der Einfluss von Dehnungen auf die Verletzungsprophylaxe wird wahrscheinlich überschätzt (Tacker et al. 2004). In vielen Untersuchungen konnte jedoch gezeigt werden, dass Aufwärmen und Koordinationstraining einen positiven Einfluss auf die Vermeidung von Verletzungen haben (Freiwald 2006). Sicher nachgewiesen ist bisher nur die Verbesserung der Beweglichkeit durch Dehnen (Freiwald 2009). 

Dehnen sollte man seine Muskeln immer nur nach einer Aufwärmphase. Beim Dehnen werden verschiedenen Methoden unterschieden (Freiwald 2009):

–        Statisches Dehnen

–        Dynamisches Dehnen

–        Anspannen – Entspannen – Dehnen

–        Agonistische Kontraktion und Dehnen

–        Anspannen – Entspannen – Agonistische Kontraktion und Dehnen

Die ersten drei Dehnmethoden sind in der alltäglichen Praxis sehr gut durchführbar, die letzten zwei Dehnmethoden müssen unter Anleitung erlernt werden. Falsch sind heftig wippende oder reißende Bewegungen, weil sie Verletzungen provozieren. Einige dynamische Dehnübungen im Sinne einer Dehngymnastik (Mobilisationsübungen) wie z.B. Armschwingen, Beinpendel,  Rumpfdrehen und -seitbeugen sowie Hüft- und Fußkreisen kann man vor der sportlichen Betätigung oder nach dem Warmlaufen machen. Diese sollten mit betonter Lockerheit, fließend und nicht abrupt durchgeführt werden.

Im Winter ist es wegen der Erkältungsgefahr besser, das Lauftraining nicht zu unterbrechen. Läufer brauchen keine besonders ausgeprägte Beweglichkeit. Laufen stellt aber eine einseitige Bewegung mit hoher Wiederholungszahl dar. Besonders wenn größere Laufumfänge absolviert werden, lohnt sich Dehnen zur Normalisierung der Muskel-, Sehnen und Gelenkfunktion.

Die statische Dehnung ist zur Erhaltung einer normalen Muskellänge ausreichend und erfolgt nach dem Training, am besten nach dem Duschen. Die statische Dehntechnik ist am einfachsten zu erlernen und wird als besonders entspannend empfunden. Diese Dehnung vollzieht man sanft ohne ruckartige Bewegung in den Widerstand hinein bis zu einem leichten ziehenden Gefühl. Dieses subjektive Dehnungsgefühl muss nicht aus dem Bereich der Muskulatur stammen, sondern kann auch aus anderen Geweben, z.B. den Bändern, Sehnen und Kapseln stammen.

Jede Dehnübung soll langsam ausgeführt und für 15 – 20 Sekunden gehalten werden. Es darf kein Schmerz auftreten.

Beim Dehnen nicht nachfedern oder wippen, dadurch wird der Muskel eher fester und es kann zu Zerrungen kommen. Bei allen Übungen sollten Sie ruhig und gleichmäßig atmen. Entspannungsverfahren fördern die Dehnfähigkeit der Muskulatur. Das Dehnprogramm muss nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Die wichtigsten Muskelpartien sollten Sie in einem Basisprogramm jeweils 2x dehnen, dafür benötigen Sie nur ungefähr 10  Minuten (Aderhold u. Weigelt 2012). Die größte Zunahme des Bewegungsumfangs findet nach der ersten und zweiten Dehnung statt und nimmt bei der dritten Dehnung kaum noch zu. Weitere Übungen finden Sie bei Spring et al. (2005), Albrecht u. Meyer (2010) sowie Pabst u. Butz (2017).

Direkt nach sehr intensiven Belastungen im Training und Wettkämpfen sollten Sie kein intensives statisches Dehnen vornehmen, da dadurch die Gefäße komprimiert und die Durchblutung vermindert werden. Es kommt zu einer Verzögerung der muskulären Regeneration. Lockeres Auslaufen, Auffüllen der Flüssigkeits- und Mineralstoffverluste, eine warme Dusche und anschließend sanftes Stretching und evtl. Massage ist die richtige Reihenfolge. Dehnen Sie erst, wenn sich Ihre Muskulatur wieder lockerer anfühlt.

Stretching sollte nicht angewendet werden in der ersten Phase des Muskelkaters und bei Muskelverletzungen (Muskelzerrung, Muskelfaserriss). Es gibt in der Literatur Hinweise, die eine Verschlimmerung von Muskelkater durch Dehnübungen belegen. Durch Dehnen kann auch kein Muskelkater vermieden werden (Wiemann und Kamphöfner 1995; Freiwald 2009). Wenn Sie eine Verletzung haben, kann durch Dehnung die Situation verschlechtert und der Heilungsprozess verlängert werden. Stretchen des Gegenmuskels (Antagonist) und der Umgebung ist möglich, aber vermeiden Sie das Stretchen verletzter Muskelbereiche.

In der Phase der Wiederherstellung wirken Dehnungen im schmerzfreien, submaximalen Bereich als ausrichtender Reiz auf die bindegewebigen Strukturen. Da durch Stretching die Maximalkraft reduziert wird (Wiemeyer 2003; Simic et al. 2013), ist diese Maßnahme bei Schnellkraftsportarten (Sprint, Sprung) kontraproduktiv (Ferger u. Moritz 2017). Als Ursache werden eine plastische Verformung des Bindegewebes und eine nervöse Reflexhemmung angenommen (Freiwald 2009). Dehnen vor dem Sport ist bei Sportarten zu empfehlen, wo es auf eine besonders hohe Beweglichkeit ankommt (Turnen, Sportgymnastik, Badminton, Schwimmen).

Auch für Läufer mit Bewegungseinschränkungen (z.B. beginnende Arthrose) eignet sich ein leichtes Dehnen vor dem Lauf. Zu beachten ist aber, dass durch statisches Dehnen (Stretching) die Laufleistung reduziert und der Energieverbrauch erhöht werden können (Wilson et al. 2010). 

Zusammenfassend kann Dehnen (Stretching) empfohlen werden (Aderhold und Weigelt 2012):

Dehnen kann empfohlen werden:

  1. nach leichtem Training (GA 1-Bereich:RDL, EDL, IDL, FS, AT)
  2. nach regenerativen Anwendungen
  3. nach dem Krafttraining

Auf Dehnen sollte verzichtet werden:

  1. vor dem Training und Wettkampf
  2. nach hartem Training (GA 2-Bereich: TDL, WHL) und Wettkampf
  3. im verletzten Bereich und bei Überbeweglichkeit

Legende: RDL = regenerativer Dauerlauf, EDL = extensiver Dauerlauf, IDL = intensiver Dauerlauf, FS = Fahrtspiel, TDL = Tempodauerlauf, WHL = Wiederholungsläufe, AT = Alternatives Training

Dr. Dr. med. Lutz Aderhold

Literatur:

Aderhold L, Weigelt S. Laufen! … durchstarten und dabeibleiben – vom Einsteiger bis zum Ultraläufer. Stuttgart: Schattauer 2012.

Albrecht K, Meyer S. Stretching und Bewqeglichkeit. Das Expertenhandbuch. Heidelberg: Haug 2010.

Anderson B: Stretching. Enfield Middlesex: Publisher Group 2000.

Behm DG, Chaouachi A. A review of the acute effects of static and dynamic stretching on performance. Eur J Appl Physiol 2011; 111: 2633-51.

Ce E, Limonta E, Maggioni MA, Rampichini S, Veicsteinas A, Esposito F. Stretching and deep superficial massage do not influence blood lactate levels after heavy-intensity cycle exercise. J Sports Sci 2013; 31: 856-66.

Ferger K, Moritz C. Effekte unterschiedlicher Kompensationsmaßnahmen nach statischem Dehnen. Dtsch Z Sportmed 2017; 68: 61-6.

Freiwald J. Stretching für alle Sportarten. Hamburg: Rowohlt 2006.

Freiwald J. Optimales Dehnen. Sport – Prävention – Rehabilitation. Balingen: Spitta 2009.

Herbert RD, Gabriel M. Effects of stretching before and after exercising on muscle soreness and risk of injury: systematic review. Br Med J 2002; 325:468-72.

Pabst M, Butz A. Athletiktraining für Ausdauersportler. München: BLV Buchverlag 2017.

Schönthaler SR, Ohlendrof K. Biomechanische und neurophysiologische Veränderungen nach ein- und mehrfach seriellem passiv-statischem Beweglichkeitstraining. Köln: Strauss 2002.

Simic L, Sarabon N, Markovic G. Does pre-exercise static stretching inhibit maximal muscular performance? A meta-analytical review. Scand J Med Sci Sports 2013; 23: 131-48.

Spring H, Illi U, Kunz HR, Röthlin K, Schneider W, Tritschler T. Dehn- und Kräftigungsgymnastik. Stretching und dynamische Kräftigung. Stuttgart: Thieme 2005.

Thacker SB, Gilchrist J, Stroup DF, Kimsey CD. The impact of stretching on sports injury risk: a systematic review of the literature. Med Sci Sports Exerc 2004; 36: 3171-8.

Vounatsos T. Dehnen für Langstreckler – Pflicht oder Kür? Laufmagazin Spiridon 2014; 40 (12): 89-91.

Werth C. Wirkungen von Stretching überschätzt. Laufmagazin Spiridon 2012; 38 (5): 18-9.

Wiemann K, Kamphöfner. Verhindert statisches Dehnen das Auftreten von Muskelkater nach exzentrischem Training? Dtsch Z Sportmed 1995; 46. 411-21.

Wiemeyer J. Dehnen und Leistung – primär psychophysiologische Entspannungseffekte? Dtsch Z Sportmed 2003; 54: 288-94.

Wilson JM, Hornbuckle LM, Kim JS, Ugrinowitsch C, Lee SR, Zourdos MC, Sommer B, Panton LB. Effects of static stretching on energy cost and running endurance performance. J Strength Condit Res 2010; 24: 2274-79.

Witvrouw E, Mathieu N, Danneels L, McNair P. Stretching and injury prevention: an obscure relationship. Sports Med 2004; 34: 443-9.

Yamaguchi T, Takizawa K, Shibata K. Acute effect of dynamic stretching on endurance running performance in well-trained male runners. J Strength Cond Res 2015; 29: 3045-52.

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author: GRR

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