Lagat ist Weltbürger. "Ich bin in Kenia geboren, habe die amerikanische Staatsbürgerschaft, einen chinesischen Trainer, eine kanadische Frau und viele Freunde in Tübingen", sagt er.
Das Recht des Weltbürgers zu laufen, wohin er will – In Athen hat er die Chance auf den Sieg verschenkt – weil er nicht glaubte, gewinnen zu können. In Peking will Bernard Lagat die Goldmedaillen über 1500 und 5000 Meter. Michael Reinsch in Frankfurter Allgemeinen Zeitung
LONDON. Nur zwei Läufer aus Deutschland sollen bei den Olympischen Spielen in den Einzelwettbewerben am Start sein. Nur Tobias Unger und Carsten Schlangen? Es sind mehr. Aus Tübingen wird in zehn Tagen Bernard Lagat nach China fliegen. Er könnte für sich in Anspruch nehmen: "Ich bin zwei Favoriten."
Doch der Weltmeister über 1500 und 5000 Meter hat viel mehr Spaß daran zu behaupten: "Ich bin ein Schwabe." Dabei startet der Mann aus dem kenianischen Hochland als Landesmeister auf beiden Strecken für die Vereinigten Staaten von Amerika.
Als Lagat beim Sportfest von Crystal Palace am Freitag in London auf der Meile, seinem zehnten Rennen der Saison, die erste Niederlage hatte einstecken müssen – er kam nicht rechtzeitig zum Endspurt aus dem Feld auf die Außenbahn und wurde in 3:55,20 Minuten Dritter hinter dem Kenianer Shedrak Kibet-Korir (3:54,68) und dem Briten Andrew Baddeley (3:54,76) -, machte er zwei Witze. "Ich werde gleich ein bisschen weinen", behauptete er, und jeder wusste, dass das nicht wahr sein würde. Dafür stimmte, was er danach sagte: "Das nächste Rennen darf ich nicht verlieren."
Das wird der Vorlauf über 1500 Meter in Peking sein. Lagat, 33 Jahre alt und im Vollbesitz seiner Kräfte, wird versuchen, wie Hicham El Guerrouj 2004 Olympiasieger auf der längsten Mittel- und auf der kürzesten Langstrecke zu werden. In Athen war er dem Marokkaner im Endspurt knapp unterlegen – weil er nicht wirklich davon überzeugt war, siegen zu können, sagt sein Trainer James Li bis heute.
Den zweiten Witz dürfte kaum jemand verstanden haben. "Weißt du was", sagte er zu seinem amerikanischen Kollegen und Konkurrenten Alan Webb, bevor er sich den Journalisten stellte, "ich werde behaupten, es lag am Jetlag." Lagat kam aus Deutschland, der Zeitunterschied beträgt gerade eine Stunde. Seit ihn sein Manager James Templeton vor Jahren nach Tübingen brachte, lebt er regelmäßig dort.
Inzwischen hat er ein eigenes Haus und verbringt in ihm mit seiner kanadischen Frau und ihrem gemeinsamen Sohn den Sommer, wenn er die Sportfeste Europas bestreitet. Bernard Lagat liebt die Laufstrecken in den Wäldern der Umgebung, auf denen er derzeit trainiert. Der Empfang im Tübinger Rathaus im vergangenen Jahr bringt ihn immer noch zum Schwärmen. Dort feierte er die beiden Titel, die er in Osaka gewonnen hatte.
Manche glauben, dass er seinen kenianischen Pass aus Ärger über die Doping-Affäre abgab, die ihn seine Teilnahme an der Weltmeisterschaft von Paris 2003 kostete. Damals machte der kenianische Verband bekannt, dass Lagat in Deutschland positiv auf Epo getestet worden sei. "Ich war ratlos", erinnert er sich. "Ich musste erst mal fragen: Kann man das mit dem Trinkwasser aufnehmen? Oder mit dem Essen?" Nein, Epo wird gespritzt. Das erklärte ihm der Heidelberger Zellforscher Werner Franke, an den ihn der Tübinger Kriminologe Dieter Rössner verwiesen hatte.
Der Doping-Experte und Antidopingkämpfer nahm sich der Sache an und realisierte, wie lax die Labore mit Proben von Athleten und ihren Analysen umgehen. Die B-Probe, unter den wachsamen Augen eines Mitarbeiters von Franke analysiert, erwies sich als negativ. Damit war der Dopingbefund hinfällig. Die Weltmeisterschaft war es zu diesem Zeitpunkt allerdings auch. Die Klage Lagats auf Schadensersatz scheiterte.
"Das kann mir wieder passieren", sagt Lagat, "das kann jedem sauberen Athleten passieren. Wir leben in einer steten Unsicherheit, falsch-positiv getestet zu werden. Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn es mir noch einmal passiert."
Doch nicht aus Ärger über den kenianischen Verband wurde Lagat Amerikaner, sondern weil er nirgends dem Traum so nahe kam, dem er Zeit seines Lebens nachläuft, wie in den Vereinigten Staaten. Er ist das fünfte von zehn Kindern. Als er 1999 ein Stipendium für die Washington State University erhielt, nahm er gern an, weil vor ihm unter anderem die Läufer-Legende Henry Rono dort studierte. Doch vor allem sah er die große Chance. "Das ist das Wichtigste, was ich gewonnen habe: Bildung", sagt er, der mittlerweile in Tucson in Arizona lebt. 2003 beantragte er die amerikanische Staatsbürgerschaft, startete aber im folgenden Jahr noch für Kenia bei den Olympischen Spielen in Athen.
Der Bronzemedaille von Sydney ließ er dort die Silbermedaille folgen. Als er im vergangenen Jahr Weltmeister wurde, hüllte er sich in Stars and Stripes, bevor er auf die Ehrenrunde ging. "Ich bin stolz, Amerikaner zu sein", sagt er. Lagat bezieht das nicht auf sein Heimatland allein und dessen Grenzen, sondern auf Grundrechte, die er universell versteht. "Jeder Mensch sollte frei sein, dort zu leben, wo er will."
Lagat hat sich das Recht genommen, zu laufen, wohin er will.
Michael Reinsch in Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 29. Juli 2008