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05
12
2014

Als Galen Rupp knapp hinter Mo Farah die Silbermedaille für die USA holte - die erste für einen Amerikaner seit Bill Mills Olympiasieg 48 Jahre zuvor -, war das nicht nur ein fantastischer Erfolg für die beiden Athleten, sondern auch für Alberto Salazar, den Trainer. Es war der Beweis, dass auch die Ostafrikaner schlagbar sind - und dass das von Nike finanzierte Oregon-Projekt funktioniert.

Das Oregon-Projekt von Alberto Salazar – Mit Hightech an die Spitze – Von Jürg Wirz

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Doppel-Olympiasieger Mo Farah gehört dazu, der beste weisse Langstreckenläufer Galen Rupp und auch Mary Cain, das 18-jährige „Wunderkind". Im Rahmen des Oregon-Projekts steht Coach Alberto Salazar im Nike-Hauptquartier in Beaverton die beste Infrastruktur zur Verfügung, die man sich vorstellen kann.

Alberto Salazar, 1958 in Kuba geboren und als Zweijähriger mit seiner Familie in die USA immigriert, galt als einer der charismatischsten Langstreckenläufer seiner Zeit, gleichzeitig aber auch als einer, der seinen Körper bis an die Grenze und darüber hinaus forderte. Von 1980 bis 1982 gewann er den New York Marathon dreimal in Serie, wobei er 1981 mit 2:08:13 Stunden einen „Weltrekord" aufstellte. Eine Nachmessung ergab dann aber, dass die Strecke um 148 Meter zu kurz war.

1982 triumphierte er auch in Boston. Es war das legendäre „Duell in der Sonne" mit Dick Beardsley. Salazar rang seinen Widersacher in einem hochdramatischen Spurt nieder und brach nach der Ziellinie zusammen. Eine Infusion mit mehreren Litern einer Salzlösung musste ihm verabreicht werden; er hatte während des ganzen Marathons nichts getrunken.

Danach gewann Salazar zwar nochmals in New York, erreichte sein volles Leistungsvermögen aber nie mehr. Vielleicht auch, weil er es nun mit der Brechstange versuchte und seine Wochenpensen bis auf fast unglaubliche 200 Meilen (320 km) steigerte.

Den Tod überlistet

Der Zusammenbruch in Boston 1982 war nicht der erste und der letzte Zwischenfall, bei dem Salazar den Tod vor Augen hatte. 1978 brach er nach einem 11-km-Strassenlauf in Falmouth (Massachusetts) zusammen. Die Körpertemperatur war auf 42° C angestiegen; er erhielt die Sterbenssakramente.

Am 30. Juni 2007, Salazar hatte seine Karriere inzwischen längst beendet und nahm Medikamente für seinen erblich bedingten hohen Blutdruck, stoppte sein Herz während 14 Minuten! Es geschah auf dem Nike-Campus in Beaverton, wo er seine Athleten trainierte. Ein plötzlicher Schmerz in der Nackengegend, Schwindel, Salazar sank in die Knie. Der Mann, von dem es einst hiess, seine Herzleistung sei die beste, die je gemessen wurde, erlitt einen Herzanfall.

Eilends herbeigerufene Helfer pumpten Sauerstoff in sein System und verhinderten so, dass das Gehirn Schaden nahm. Dreimal wurde erfolglos versucht, das Herz mit Elektroschocks zum Schlagen zu bringen, erst beim vierten Mal hatten die Sanitäter Erfolg. Doch im Ambulanzfahrzeug stoppte das Herz erneut. Es brauchte acht Elektroschocks in einer Zeitspanne von 26 Minuten, bis Salazars Herz wieder alleine und ohne Unterbruch arbeitete. Er hatte den Tod überlistet.

Inzwischen hat er sich, nach einer Operation an einer Herzarterie und mit einem Herzschrittmacher unterwegs, von diesem schweren Herzanfall erholt. Er geht sogar wieder Joggen. Und er trainiert seine Athleten mit dem für ihn charakteristischen totalen Engagement. Als am ersten Samstag im August 2012 Mo Farah, der Brite mit somalischen Wurzeln, auf der letzten Runde des olympischen 10 000-Meter-Endlaufs seinen Gegnern davonlief und seine erste von zwei Goldmedaillen gewann und sein Trainingspartner Galen Rupp knapp dahinter die Silbermedaille für die USA holte – die erste für einen Amerikaner seit Bill Mills Olympiasieg 48 Jahre zuvor -, war das nicht nur ein fantastischer Erfolg für die beiden Athleten, sondern auch für Alberto Salazar, den Trainer. Es war der Beweis, dass auch die Ostafrikaner schlagbar sind – und dass das von Nike finanzierte Oregon-Projekt funktioniert.

Am Anfang stand der Frust

Am Anfang des Projekts stand der Boston-Marathon 2001. Salazar verfolgte das Rennen am Fernsehen mit Tom Clarke, einem aus der Nike-Führungsetage. Der Südkoreaner Bong Ju-Lee gewann vor einem Ecuadorianer und drei Kenianern. Dann begann der Kommentator voller Begeisterung vom besten Amerikaner zu reden, der als Sechster ins Ziel kam.

Salazar und Clarke schüttelten den Kopf: „So weit haben wir es gebracht, dass sogar ein sechster Rang gefeiert wird." Sie diskutierten über die guten alten Zeiten und darüber, wie die Amerikaner wieder „Worldbeaters" werden könnten. So wie in den siebziger Jahren mit dem Münchner Marathon-Olympiasieger Frank Shorter und dann Steve Prefontaine. Der James Dean des Laufens starb 1975 mit 24 Jahren bei einem Autounfall, noch bevor er seinen Leistungszenit erreicht hatte.

Seine Legende lebte fort, weil Prefontaine mit seiner Leidenschaft und seiner unkonventionellen Erscheinung den amerikanischen Traum verkörperte. Die achtziger Jahre gehörten vor allem Salazar. Dann ging's bergab.

Mit Salazars Know-how und Nikes Geld entstand das wohl ehrgeizigste Projekt in der Geschichte des Laufsports. In den ersten Jahren harzte es, doch dann entdeckte Salazar Galen Rupp. Er wurde zum Musterschüler und ist inzwischen der schnellste weisse 10 000-m-Läufer und der Beweis, dass auch die Afrikaner zu schlagen sind.

Das Team umfasst sieben Läufer und vier Läuferinnen, darunter Mo Farah (Doppel-Olympiasieger 2012 und -Weltmeister 2013), Galen Rupp (Olympiazweiter 10 000 m 2012, PB 26:44,36 min), Matthew Centrowitz (WM-3. 1500 m 2011, Olympia-Vierter 1500 m 2012, 1 Meile 3:50,53 min) und seit Neustem auch das Wunderkind Mary Cain (WM-Finalistin 1500 m 2013, mit 17 jüngste amerikanische WM-Teilnehmerin aller Zeiten).

Salazars Überlegung ist ziemlich einfach: „Kenianer und Äthiopier haben keine Geheimnisse. Ihr Erfolgszezept ist simpel: Es gibt dort Hunderte von talentierten Läufern, die wie verrückt trainieren. Sie versuchen, ihre Möglichkeiten und die klimatischen Vorteile optimal auszunutzen. Wer in diesem knallharten Konkurrenzkampf überlebt, ist nur ganz schwer zu schlagen. Wir haben nicht diese Vielzahl an Läufern, also müssen wir zu den wenigen, die wir haben, Sorge tragen und ihnen die bestmöglichen Trainingsbedingungen bieten. Es wäre schwachsinning, das nicht zu tun."

Das Beste vom Besten

Zu Salazars Training gibt es Fakten und Gerüchte. Mo Farah fasst es so zusammen: „Wir konzentrieren uns auf alle Aspekte, die zur Leistungsoptimierung wichtig sind."

Innovativ und revolutionär sind die Trainings-Hilfsmittel: Salazar verwendet eine Computersoftware, mit der die Herzfrequenz jederzeit analysiert und die optimale Trainingsbelastung bestimmt werden kann, er lässt seine Athleten zeitweise in einer sauerstoffarmen Umgebung leben, wo Höhen bis zu 4000 m ü.M. simuliert werden und der Körper die Produktion der roten Blutkörperchen verstärkt, er setzt Unterwasser- und das Antischwerkraft-Laufband AlterG ein.

Farah benützt die Alternativ-Laufbänder regelmässig, wenn er leichte Beschwerden hat oder in der Woche vielleicht schon 160 Kilometer gelaufen ist und noch einige Kilometer draufpacken will, ohne den Bewegungsapparat zu belasten. Zur Verbesserung der Erholung und des Sauerstoffvolumens, insbesondere nach harten Trainingseinheiten, wird auch die unter dem Namen Cryosauna bekannte Kühlkammer eingesetzt, die den Körper während einer ganz kurzen Zeit bis auf über minus 120°C abkühlt und zu physiologischen Anpassungen zwingt. Auch kleine Entzündungen werden so zum Verschwinden gebracht. Es sind Hightechgeräte, die aus Daniel Düsentriebs Labor stammen könnten.

Höhenkammern und Schilddrüsen-Unterfunktion

Die Wirkung ist unbestritten. Die Ergebnisse sprechen für sich. Doch ebenso klar ist, dass sich Alberto Salazar mit seinen Schützlingen an der Grenze des Erlaubten bewegt. Es gibt auch Kritiker, die der Meinung sind, er habe die Grenze bereits überschritten. 2002 wurde das Oregon-Projekt bei der US-Anti Doping Agentur erstmals zum Thema. Eine Kommission befasste sich mit der Frage, ob die Höhenkammern ethisch vertretbar seien.

Direktor Larry Bowers sagte damals: „Die Höhenkammern werden angeblich für Athleten eingesetzt, die nicht in der Höhe leben können. Was sie nicht berücksichtigen, ist die Tatsache, dass Athleten, die in der Höhe leben, dort auch trainieren müssen, also nicht den Nutzen des „live high, train low" haben." In der Höhe, das weiss man, lassen sich nicht die gleichen Trainingsbelastungen durchführen wie auf Meereshöhe. Der Trainingseffekt ist am grössten, wenn ein Ausdauerathlet „oben" lebt und unten trainiert.

2006 beriet die World Anti-Doping Agency  (WADA) über die Höhenkammern. Einige Mitglieder vertraten die Meinung, es handle sich um eine Manipulation mit der gleichen Wirkung wie Blutdoping bzw. EPO und sollte deshalb verboten werden. Dennoch gab Dick Pound, damals Präsident der WADA, am 16. September 2006 bekannt, „dass eine klare Mehrheit der involvierten Kreise zum Schluss gekommen ist, dass ein Verbot zu diesem Zeitpunkt nicht angebracht und auch kaum durchsetzbar wäre".

Damit war das Thema vom Tisch, aber ein anderes nicht. Unter Salazars Läufern gibt es mehrere, die angeblich an einer Schilddrüsen-Unterfunktion leiden, einer sogenannten Hypothyreose, die zu Müdigkeit führen kann und insbesondere bei Frauen im mittleren und fortgeschrittenen Alter vorkommt.

Der Arzt, der bei den Läufern diese Unterfunktion feststellt und behandelt, heisst Dr. Jeffrey S. Brown, ein Endokrinologe aus Houston. Carl Lewis, der neunfache Olympia-Goldmedaillengewinner, war der erste von Brown behandelte Athlet.

Zu den Athleten, die sich outeten, gehören Galen Rupp, Ryan Hall, Amy Yoder Begley, Bob Kennedy und Patrick Smyth. Smyth, ein Marathonläufer, ging wegen chronischer Müdigkeit zuerst zu einem Arzt bei sich zu Hause in Kalifornien, der nichts finden konnte. Brown verschrieb ihm dann die Hormon-Substitution Levethyroxin.

„Ungewöhnlich, wenn nicht verdächtig"

Immer mehr Athleten suchen Dr. Brown auf, in der Meinung, dass hartes Training die Schilddrüsenfunktion beeinträchtigen und zu Müdigkeit führen kann. Unter seinen Berufskollegen ist Brown allerdings sehr umstritten. „Wenn man sieht, dass eine grössere Anzahl junger Athleten für eine Schilddrüsen-Unterfunktion behandelt werden, ist das zumindest ungewöhnlich, um nicht zu sagen: ein wenig verdächtig", liess sich Ian Hay, ein Hormonspezialist an der Mayo-Klinik im „Wall Street Journal" zitieren.

Don Catlin, US-Pionier in der Dopingbekämpfung und langjähriges Mitglied in der medinzinischen Kommission des IOC, sagte in einem Interview: „Ich gehe davon aus, dass einige Athleten diese Medikamente nehmen, um eine Leistungssteigerung zu erreichen. Wenn du es nimmst und es eigentlich nicht brauchst, hat es eine stimulierende Wirkung." Das bestätigt auch Victor Conte, der BALCO-Gründer, der wegen Handels mit Steroiden vier Monate im Gefängnis sass und vier Monate unter Hausarrest. Nach Auffassung des IOC führen die  Medikamente T3 bzw. Levothyroxin eher zu einer Leistungseinbusse als zu einer -steigerung.

Die Frage bleibt so oder so: Ist es richtig, dass ein paar wenige Athleten mit den Millionen eines Sportartikel-Giganten Vorteile gegenüber allen anderen Läufern herausholen, die nur mit Wasser kochen (können)?

Mehrere Gründe für den Erfolg:

Alberto Salazar und sein von Nike finanziertes Oregon-Projekt bewegen sich, was die Methoden und  Möglichkeiten betrifft, in anderen Sphären. Nichts wird dem Zufall überlassen.

Doch was kann der Normalverbraucher von der elitären US-Trainingsgruppe ableiten und allenfalls sogar übernehmen? Nicht wenig.

1. Die langfristige Planung. Salazar arbeitet zum Beispiel seit 13 Jahren mit Galen Rupp. Im Laufe dieser Zeit ging es um eine kontnuierliche Leistungssteigerung. Oft wurde der kurzfristige Erfolg zugunsten der langfristigen Ziele geopfert. Das wichtigste Attribut dabei: Geduld.

2. Gute Trainingspartner. Als das Nike-Projekt 2002 lanciert wurde, stand den jungen Athleten die beste Infrastruktur zur Verfügung. Salazar achtete aber von Beginn weg auch auf eine kompetitive Atmosphäre innerhalb der Gruppe. Die Philosophie: Ein Athlet muss von gleichwertigen Trainingspartnern gefordert werden. 

3. Der Laufstil. Wie für jeden Trainer sind auch für Salazar die Lauftrainings das A und O, aber er legt auch auf den Laufstil sehr grossen Wert, weil er weiss, dass mit einer effizienten Vorwärtsbewegung schneller und energiesparender gelaufen werden kann. Das Rezept dafür: entspannt von Kopf bis Fuss.

4. Schnelligkeitstraining. Nur wer am Ende eines Langstreckenlaufs noch sprinten kann, hat eine Chance, das Rennen zu gewinnen. Schnelligkeitstraining gehört bei Salazar fest zum Trainingsalltag. Dabei werden die Muskelfasern trainiert, die sonst im Langstreckenlauf zu kurz kommen. Die Spurtfähigkeit wird besser und der Schritt wird flüssiger.

5. Der mentale Bereich. Einer der Hauptgründe für die Erfolge von Mo Farah, Galen Rupp und dem ganzen Team liegt im mentalen Bereich. Salazar hat – mit Hilfe von Psychologen – seinen Schützlingen die Überzeugung eingeimpft, dass sie die „unantastbaren" Kenianer und Äthiopier schlagen können. Positives Denken ist ein wichtiger Faktor für das Erreichen der persönlichen Ziele.

Jürg Wirz in LAUFZEIT & CONDITION – 11.2014

LAUFZEIT&CONDITION

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