Eliud Kipchoge ist im Marathon bei Olympia in Rio dabei und ist dort einer der Topfavoriten auf eine Medaille. ©Helmut Winter
Das kenianische Olympia-Team für den Marathon der Männer in Rio de Janeiro 2016: Der kenianische Verband zeigt salomonische Qualitäten – Helmut Winter berichtet
Der kenianische Leichtathletik-Verband (Athletics Kenya – AK) hat sich in der Vergangenheit bei der schwierigen Aufgabe, aus der Fülle von Weltklasseathleten über die Marathondistanz die geeigneten Vertreter bei internationalen Meisterschaften, wie WM oder Olympische Spiele, zu rekrutieren, nicht immer leicht getan und geschickt agiert.
Kommt dann noch weiterer Unbill hinzu, gereicht die Stunde der Bewährung zu einem Debakel, wie es sich zuletzt im August 2015 bei der WM in der chinesischen Hauptstadt Beijing abspielte.
Die beiden kenianischen Topstars (Weltrekordler Dennis Kimetto sowie sein Vorgänger Wilson Kipsang) stiegen bei für einen Marathon unzumutbaren Bedingungen aus. Die „Ehre" der sieggewohnten Kenianer rettete auf Platz 22 (!) Mark Korir mit einer indiskutablen Zeit.
Diese Fakten gilt es in Erinnerung zu rufen, um zu ermessen mit welchem Augenmaß die kenianischen Offiziellen mit Blick auf Rio ihre Entscheidungen gefällt haben.
Das in der Öffentlichkeit vielfach zu hörende Erstaunen über die Zusammensetzung der kenianischen Auswahl, hier vor allem die Benennung der jeweils dritten Rio-Fahrer, hat durchaus profunde Gründe, die sich aber in der Tat nicht unmittelbar aus dem Leistungsprofil der Betroffenen erschließen.
Ganz besonderes Erstaunen erregte die Wahl von Wesley Korir, dessen Berücksichtung für das kenianische Team auf der Basis der in seiner Karriere erzielten Zeiten wenig einsichtig erscheint.
Aber abgesehen davon, dass Meisterschaftsrennen ohne Tempomacher und ohne Jagd auf Rekordmarken über die Bühne gehen, und damit auch Qualitäten des unmittelbaren Wettkampfs gefragt sind, dürften es im Fall von Korir noch andere Argumente gegeben haben, die dafür sprechen, dass hier ein Verband einmal ganz im Sinne Olympischer Ideale gehandelt hat. Gratulation, Athletics Kenya!
Bevor wir auf Korir weiter eingehen ein kurzer Blick auf seine Mitstreiter für Rio.
Da ist die (Aus-)Wahl mehr als naheliegend, denn mit der Nominierung von Eliud Kipchoge und Stanley Biwott sind die Sieger der World Marathon Major Läufe 2015 in Berlin sowie New York City benannt, die auch das legendäre Rennen in London am 24. April 2016 dominierten.
Und wie! Kipchoge gewann in großartigen 2:03:05 und verfehlte dabei den Weltrekord von Dennis Kimetto (2:02:57) denkbar knapp. Biwott konnte bis gut 39 km das Höllentempo in London mitgehen und wurde in gleichfalls herausragenden 2:03:51 Zweiter.
Nicht nur ein Blick in die aktuelle Weltbestenliste belegt, dass diese beiden Kenianer derzeit auf globaler Skala die besten Marathonläufer sind. Diese beiden Ausnahmekönner nicht zu nominieren, wäre sicher schwer zu vermitteln gewesen.
Mit dem Start von Kipchoge und Biwott ist aber sichergestellt, dass Kenia in Rio hochkarätig vertreten ist, bezüglich eines dritten Läufers ist man – zumindest was die ersten Plätze anbetrifft – nicht unter Druck.
Falls es die Topstars in Rio de Janeiro nicht richten können, wer dann?
Als Konsequenz der Besetzung des Teams mit den beiden Topstars ergaben sich dann Freiräume, die man augenscheinlich auch nutzte. Aus welchem Füllhorn man in der Läufernation Kenia diesbezüglich schöpfen kann, zeigen allein die 17 Läufer aus Kenia, die im letzten Jahr eine Zeit von unter 2:07 Stunden unterboten.
In vielen Ländern ist man stolz, über Läufer mit Bestzeiten unter 2:10 Stunden zu verfügen, in Kenia schafften das allein 2015 über 80 Aktive. Das macht die Wahl in der Tat nicht einfacher.
Nahelegend ist in dieser Problematik, den amtierenden Weltrekordler Dennis Kimetto oder seinen Vorgänger Wilson Kipsang ins Auge zu fassen. Die „laufen" aktuell zwar ihren besten Tagen etwas hinterher, aber zur Weltklasse sind sie immer noch zu zählen. Ferner werden die Bedingungen in Rio nicht ganz so irregulär erwartet wie beim WM-Marathon im chinesischen Hochsommer in Beijing, dessen Austragung unter solch extremen Voraussetzungen auch nicht in Ansätzen nachvollzogen werden kann.
Aber beide Ausnahmeläufer haben ihren Verzicht auf Rio kundgetan, vor allem mit Hinweis auf das Wetter. Diese Argumentation ist nur bedingt schlüssig, sondern lässt weitere Aspekte vermissen, von denen einer hier unbedingt herauszustellen ist.
Kipsang und Kimetto verzichteten auf einen Start bei Olympischen Marathon in Rio. (c) VM London Marathon
Denn neben der Aussicht für die beiden Topstars nun im Herbst einen der lukrativen Herbst-Marathon zu bestreiten (und ggfs. sogar zu gewinnen), dürfte da ein Akt der Solidarität und des Respekts vor den Leistungen eines anderen Läufers aus ihrem Heimatland eine Rolle gespielt haben.
Und dieser Läufer ist der schon oben erwähnte Wesley Korir, der in Tat – nicht ganz so spektakulär durch seine Zeiten – aber durch seine vielfältigen Aktivitäten eine Ausnahmeerscheinung ist.
Was der 33jährige Kenianer in seinem bisherigen Leben auf die Beine gestellt hat, ist mehr als beeindruckend. Der gute Mann ist schon heute eine Legende.
Und die beginnt in seiner Jugend, wo er seinen kleinen Bruder durch einen Schlangenbiss verliert, weil das nächste Krankenhaus zwei Stunden von seinem Heimatort entfernt lag.
Diesen Zustand wollte er ändern, ging in die USA, wo er in Louisville/Kentucky einen Masterabschluss in Biologie erwarb und dabei auch noch die Zeit für ein ambitionertes Lauftraining fand. Zum ersten Mal von sich reden machte er dann beim Chicago Marathon 2008, wo die Elite eine Minute vor den Massen gestartet war und sich Wesley als normale Meldung im Verfolgerfeld mit der Startnummer „248" bis auf Platz 4 in 2:13:53 ins Elitefeld lief. Nach längerer Diskussion hatte Race Director Carey Pinkowski in Chicago ein Einsehen und zahlte auch ihm ein Preisgeld aus.
Dies war nicht nur der Startpunkt einer eindrucksvollen Marathonkarriere sondern auch der Umsetzung seines Plans eines Krankenhauses in seinem Heimatort Biribiriet (Kenya).
Bereits im Mai 2009 gewann er den Los Angeles Marathon in 2:08:24, so schnell war damals noch niemand in Kalifornien einen Marathon gelaufen. In Chicago war er regelmäßig dabei, seinenschnellsten Rennen absolvierte er 2011 in 2:06:15 und ein Jahr später in 2:06:13.
Dazwischen landete er seinen größten Erfolg mit einem klug eingeteilten Lauf beim Hitzerennen des Boston Marathon im Jahr 2012. Den überwiegenden Teil seiner Preisgelder brachte er in seine Stiftung der „Kenyan Kids Foundation" ein.
Mit dieser Stiftung wurde der Bau des Krankenkauses in seinem Heimatort im Jahr 2013 abgeschlossen, schon im ersten Jahr führte dort ein Ärzteteam aus Louisville (USA) mehrere 1000 Behandlungen und Operationen durch. Korir erkannte schnell, dass er in seiner Heimat viel dringlicher gebraucht wurde als in den USA, wo er den Status eines „Permanent Resident" besitzt.
2013 wurde er ins kenianische Parlament gewählt und verschrieb sich mit großer Energie der dringend gebotenen Wasserversorgung in den ländlichen Regionen seines Landes.
Seine Foundation, die übrigens auch die „Nacht im Grünauer Forst" mit Spenden unter dem Motto „Run For Kenya" (nächster Termin: 28. Mai 2016, www.hwrun.de) unterstützt, fokusiert sich neben vielen anderen Dingen auf die Unterstützung junger Menschen, denen die Stiftung den Besuch einer High School in ländlichen Gebieten ermöglicht.
Viele 100 Stipendien konnten durch seine Initiative vergeben werden, mit dem Ziel Eliten im Land aufzubauen und diese im Land zu halten. Nur so – und da ist Wesley mit seiner Meinung nicht allein – können viele Defizite in Kenya abgebaut und überwunden werden.
Wesley Korir ist Schirmherr der „Nacht im Grünauer Forst" und signiert nach der Pressekonferenz beim Chicago Marathon einige Plakate dieser Veranstaltung. (c) H. Winter
Es ist somit kaum verwunderlich, dass Korir eine sehr populäre Person in seinem Land ist, dessen Wirken – auch zuletzt sein Einsatz für gesetzliche Regelungen im Kampf gegen Dopingvergehen – hoch geschätzt wird.
Dass er bei seinen Verpflichtungen noch die Zeit für ein (halbwegs) ausreichendes Training findet, grenzt schon fast an ein Wunder, und sein 4. Platz hinter drei äthiopischen Läufern beim letzten Boston Marathon gewinnt diesbezüglich an weiterer Bedeutung.
Für den 33jährigen Korir war es ein Traum für sein Land bei Olympia an den Start zu gehen.
Dass dies nun Realität geworden ist, hängt auch damit zusammen, dass man neben der reinen sportlichen Leistung auch die Lebensleistung eines Menschen in die Wertung einbezieht. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass bei entsprechenden Bedingungen und einem günstigen Rennverlauf Wesley in Rio durchaus die Chance auf eine vordere Platzierung hat.
Aber angesichts der Tatsache, dass hier ein Verband im ureigensten Olympischen Sinne auch die Persönlichkeit eines Sportlers und seine Verdienste am Gemeinwesen einbezieht, ist dies schon fast zweitrangig.
Solche Beispiele sollten Schule machen!
Helmut Winter
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Das kenianische Team für den Olympischen Marathon: | ||
Name | PB | Erfolge |
Eliud Kipchoge | 2:03:05 (2016) | 2014 Rotterdam, 2014 Chicago, 2015 London, 2015 Berlin, 2016 London) |
Stanley Biwott | 2:03:51 (2016) | 2. 2016 London, 2015 New York City |
Wesley Korir | 2:06:13 (2012) | 2012 Boston 1012; 4. 2016 Boston |
Cyprian Kotut (Reserve) | 2:07:11 (2016) | 2016 Paris, 2. 2015 Mailand |
Bernard Kipyego (Reserve) | 2:06:19 (2015) | 2. 2016 Tokyo, 2014/15 Amsterdam |
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