Wer in Peking in diesen Tagen dem Erbe der Olympischen Spiele nachspürt, deren Schlussfeier gut 100 Tage zurückliegt, wird auf dem olympischen Gelände an der nördlichen vierten Ringstraße fündig. Dutzende Busse laden chinesische Besucher wie Li De Jiang aus, sie wollen das Vogelnest und den Wasserwürfel sehen ... Nest und Weite. Gute Voraussetzungen für einen Aufbruch
China nach den Spielen – Olympia und das Blaue vom Himmel – Die Olympischen Spiele 2008, die hunderttausende Besucher nach China brachten, sollten das Land ändern. Die Luft jedenfalls ist klarer seitdem. Benedikt Voigt, Peking, im Tagesspiegel
Es ist ein eiskalter Novembertag, als Li De Jiang Olympiasieger wird. Der Wind pfeift durch das schattige Pekinger Nationalstadion, als sich der Polizist aus Tangshan eine dünne Trainingsjacke mit der Aufschrift „China“ überstreift. Dann steigt er auf das Siegerpodest. Li De Jiang lacht, winkt und tut so, als würde er den Blumenstrauß, den ihm eine Hostess überreicht hat, ins Publikum werfen.
Dabei blickt er in die falsche Richtung und dreht der Ehrentribüne den Rücken zu.
Mit dieser Siegerehrung stimmt einiges nicht. Die Ränge sind leer, die Tribünen auch, und Li De Jiang hat nichts geleistet – außer an einem Schalter in den Stadionkatakomben umgerechnet 23 Euro bezahlt zu haben. Dafür bekommt er eine Fackel in die Hand gedrückt. Und statt der Nationalhymne säuselt aus den Stadionlautsprechern ein Saxofon „I just called to say I love you“ von Stevie Wonder.
Li De Jiang lässt drei Fotos von sich machen, steigt vom Podest, gibt Fackel und Trainingsjacke wieder zurück und sagt zufrieden: „Jetzt fühle ich mich wie ein Olympiasieger.“ Dann verschwindet er in einer der großen Touristengruppen, die durchs Stadion wimmeln.
Wer in Peking in diesen Tagen dem Erbe der Olympischen Spiele nachspürt, deren Schlussfeier gut 100 Tage zurückliegt, wird auf dem olympischen Gelände an der nördlichen vierten Ringstraße fündig. Dutzende Busse laden chinesische Besucher wie Li De Jiang aus, sie wollen das Vogelnest und den Wasserwürfel sehen, die Orte, die sie und Millionen Menschen weltweit aus den Fernsehübertragungen kennen. In den jüngsten siebentägigen Herbstferien schoben sich 2,42 Millionen Besucher über das olympische Gelände, die Verbotene Stadt wollten zur gleichen Zeit nur 625 000 Menschen sehen.
„Das Olympiagelände zählt jetzt zu den wichtigsten Reisezielen in Peking“, sagt Reiseleiter Sun Ming. Der kleine Mann steht mit einer dreieckigen Fahne vor dem Wasserwürfel und wartet, bis seine 25-köpfige Reisegruppe aus Guangzhou an der Nordseite herauskommt. Hinter seinem Rücken erhebt sich das fünfteilige Pangu-Plaza-Gebäude, eine drachenförmige Apartmentanlage mit angeschlossenem Luxushotel, das sich selber sieben Sterne verliehen hat. Später wird Reiseleiter Sun Ming seiner Gruppe noch den spektakulären CCTV-Tower zeigen, er nennt die Tour: „Das neue Peking.“ Die Reiseteilnehmer kommen aus dem Schwimmstadion, Sun zieht gegen die Kälte den Kragen hoch. Wie war’s? „Wärmer“, sagt einer.
Viel wird den Besuchern im Stadion, das zu unterhalten ein Betreiberkonsortium sieben Millionen Dollar im Jahr kosten soll, noch nicht geboten. Es gibt bisher lediglich eine abendliche Wassermusikshow im Schwimmstadion. Das soll sich ändern. Messen, Konzerte und Sportveranstaltungen sind geplant. Und noch mehr Kommerz. Im ersten Rang verkauft bereits eine amerikanische Fastfoodkette Hühnchenteile, im vorderen Bereich des Pressezentrums ist ein Souvenirshop eingezogen und bietet teure Original-Olympia-Maskottchen an. Wer es billiger will, kauft vor dem Stadion die Plagiate.
Jenseits der Sportstätten ist nicht viel olympisches Erbe. Die Anspannung, die im Sommer über der Stadt lag, ist gewichen. Die vielen Verbote, in denen sie sich ausdrückte, sind aufgehoben. Und so sind auch die Bettler, Müllsammler und Wanderarbeiter, die man vertrieben hatte, weil sie nicht ins Bild passten, zurückgekehrt. Der taubstumme Fahrradreparateur im Chaoyang-Viertel hatte während der Spiele seinen Platz direkt an der Straße aufgegeben und war in einen Hinterhof gezogen. Dort konnten ihn Polizeistreifen nur schwer finden, die Kundschaft allerdings auch, und so waren die Olympischen Spiele für den Fahrradreparateur aus dem Chaoyang-Viertel eine schlechte Zeit. Seit Ende September ist es wieder besser, sitzt er mit Wasserschüssel und Werkzeugkasten wieder an der Hauptstraße.
Auch die Fabriken in Peking und den umliegenden Provinzen haben ihre Produktion wieder aufgenommen, die Visum-Bestimmungen für Ausländer sind gelockert. Das ist das, was wieder ist wie früher.
Neu sind die zahlreichen Infrastrukturprojekte wie der neue, drei Milliarden Dollar teure Flughafenterminal, drei neue U-Bahnlinien oder einige emissionsarme Busse. 42 Milliarden Dollar hat China für die Maßnahmen rund um das weltgrößte Sportereignis ausgegeben, eine gigantische Summe. Der nächste Ausrichter London stöhnt gegenwärtig bereits über prognostizierte Kosten von 13,7 Milliarden Dollar.
Und noch ein Erbe der Spiele hat sich in den vergangenen Monaten fast täglich blicken lassen. Man musste nur den Kopf heben und den Himmel betrachten. Meistens strahlte der blau.
Wang Xiaojun hat in einer Sitzecke im 19. Stock des Lanchou-Gebäudes Platz genommen, neben ihm lehnt ein rotes Fahrrad an der Bücherwand. Wang ist Sprecher der Umweltschutzorganisation Greenpeace. Die Olympischen Spiele hätten vor allem die Einstellung der Chinesen zum Umweltschutz geändert, findet Wang. „Auch die Zentralregierung hat jetzt erkannt, dass sie beim Umweltschutz vorankommen muss.“ 13 Milliarden Dollar gab Peking aus, um dem Motto „Green Olympics“ gerecht zu werden. Mit sichtbarem Erfolg. Vor Wangs Fenster öffnet sich ein weiter Blick in Richtung Central Business District, einem ultramodernen, hoch aufgeschossenen Geschäftsviertel. Ein Stahlskelett am Horizont lässt ein pyramidenähnliches Neubauprojekt erahnen. „Kein Ahnung, was das wird“, sagt Wang Xiaojun, „hier wird so viel gebaut.“
Er hat in Linfen studiert, einer Stadt in der Kohleprovinz Shanxi, die als schmutzigste der Welt gilt. „Es gab dort Wochen, an denen die Sonne nicht zu sehen war“, sagt Wang, deshalb sei er auch zu Greenpeace gegangen.
Auch anderen Pekinger Bürgern hat die gute Luft der Olympischen Spiele gefallen. In einer Greenpeace-Umfrage sprachen sich 54 Prozent der Pekinger Autofahrer für ein Beibehalten der Fahrverbote aus. Die Stadt reagierte, erließ eine abgeschwächte Regelung, wonach wochentags abwechselnd 20 Prozent der 3,3 Millionen Fahrzeuge nicht fahren dürfen. „Diese Maßnahme ist okay“, sagt Wang Xiaojun, „aber es ist nicht die beste Lösung.“ Man sollte Autofahren grundsätzlich unattraktiver machen.
Und tatsächlich hat die chinesische Regierung am Freitag eine neue Benzinsteuer eingeführt, die Abgabe auf einen Liter Normalbenzin wird ab dem 1. Januar von 0,2 Yuan auf einen Yuan (rund elf Cent) angehoben. Ab dem Januar werden laut „China Daily“ weitere Fabriken und stark schmutzende Fahrzeuge aus der Stadt verbannt. In den Hutongs, den kleinen Altstadtgassen, wird zurzeit von Kohle auf umweltfreundlichere Heizungen umgerüstet.
Das Ziel jedenfalls, im Jahr 2008 mindestens 256 „Tage mit blauem Himmel“ zu haben, wurde laut Statistik des Umweltministerium bereits erreicht. 1999 hatte die Behörde lediglich 100 solcher Tage gezählt.
Wang aber hoch oben in seinem Hochhaus kritisiert die Grenzwerte und nennt Erfolgsmeldungen verfrüht. Und schließlich komme jetzt erst die Heizsaison.
Peking ist also keine umweltfreundliche Stadt geworden. Nach wie vor verstopfen zu viele Autos die Straßen, das U-Bahnsystem beschränkt sich auf acht Linien für 17 Millionen Menschen, die Wasserknappheit hat sich durch die Spiele verstärkt. Aber die Stadt taugt als Vorbild für andere chinesische Millionenstädte. „China hat sehr, sehr schwerwiegende Umweltprobleme und kann nicht länger warten“, sagt Wang Xiaojun, „warum sollen Guangzhou und Schanghai nicht dasselbe machen wie Peking?“ Die Auslagerung des Shaogang-Stahlwerks gilt ihm als Musterprojekt für den Rest des Landes. Der ehemals schlimmste Luftverschmutzer der Stadt ist vor den Spielen nach Tangshan gezogen und hat dabei seine Technik modernisiert. „Jetzt erfüllt das Werk alle nationalen Normen“, sagt Wang Xiajun. Das sei die wichtigste Botschaft der Olympischen Spiele, findet er: Veränderung ist möglich.
Auch seine Organisation hat von den Spielen profitiert. „Es gab gute Gespräche mit den Olympiaorganisatoren und der Pekinger Umweltbehörde“, sagt Wang Xiajun, „wir werden jetzt mit anderen Augen betrachtet.“ Bisher habe die chinesische Führung Nichtregierungsorganisationen als Bedrohung für ihren alleinigen Machtanspruch wahrgenommen. „Jetzt haben sie gemerkt, dass wir nicht hier sind, um Ärger zu machen“, sagt der Greenpeace-Sprecher.
Die politischen Fortschritte jedoch sind gering. Bei den Menschenrechten hat sich die Lage während der Spiele sogar verschlechtert. Und das olympische Mediengesetz für ausländische Reporter ist zwar im Oktober verlängert worden, doch der Übergriff einer Schlägertruppe in der vergangenen Woche auf ein belgisches Kamerateam in Henan zeigt, dass es an der Umsetzung weiter hapert.
Auch die Starjournalistin Jiang Yiping, 52, hat wieder Probleme. Vergangene Woche wurde sie zum dritten Mal als Chefredakteurin einer fortschrittlichen Zeitung gestürzt, diesmal muss sie die Tageszeitung „Nanfang Dushi Bao“ verlassen. Dort hatte sie Korruptionsfälle und Staatsversagen aufgedeckt, auch im Skandal um verseuchte Babymilch. Kommentare hinterfragten Pekings unversöhnliche Haltung gegenüber dem Dalai Lama, die Angst der Partei vor Reformen oder den staatlich geschürten Nationalismus. Kein anderes chinesisches Medium wagte mehr publizistischen Ungehorsam.
Ihre Demontage ist regelmäßig auch der Beginn einer neuen Kampagne. Angesichts der Wirtschaftskrise und steigender Unzufriedenheit in der Bevölkerung schalten die Behörden in den Zensurmodus. „2009 werden Chinas Gegner sehr aktiv sein“, heißt es in einem parteiinternen Dossier, dessen Inhalt im Internet veröffentlicht wurde. „Deswegen muss sich Chinas Regierung auf jedwede Herausforderung und Krise einstellen.“ Das Dokument enthält eine schwarze Liste von Journalisten, Redaktionen und Internetportalen, die von den Zensoren in den kommenden sechs Monaten besonders streng beobachtet werden sollen.
Jiang Yiping, die 1982 zum ersten Jahrgang gehörte, der nach der Kulturrevolution an der Medienfakultät der Sun-Yat-sen-Universität in Guangzhou seinen Abschluss machte, stand an erster Stelle. Für Chinas kritische Journalisten, die innerhalb der chinesischen Presselandschaft eine kleine aber einflussreiche Subkultur entwickelt haben, ist Jiang so etwas wie ein Wetterfrosch, dessen Auf- und Abstieg das politische Klima anzeigt. Und das wird nun wieder kälter.
In einem nur zwei Tische großen Café auf dem Campus der Fremdsprachen-Universität beurteilt Zhang Xiao Yue, 22, eine zierliche Studentin, die Lage viel positiver. „Ich habe gesehen, dass die Welt eine Familie ist“, sagt sie. Sie wolle jetzt noch besser Englisch lernen und später im Ausland studieren.
Gerade lernt sie für eine Prüfung, die später am Tag ansteht. Bei den Spielen gehörte Zhang Xiao Yue mit 100 000 weiteren Freiwilligen zu dem Heer aus Helfern, die Fragen beantworteten, Wege wiesen, nett und fröhlich waren. Jetzt blickt sie konzentriert auf das Din-A4-Blatt, das vor ihr liegt. Im August hätten ihre Großeltern geradezu Angst gehabt wegen der Spiele, der vielen Unwägbarkeiten. „Sie haben sich bei den Olympischen Spielen um meine Sicherheit gesorgt, ich bin als einziges Kind in unserer Familie besonders wichtig“, sagt sie. Die Großeltern glaubten, dass nach den Protesten beim Fackellauf und den Demonstrationen und Ausschreitungen in Tibet die Gefahr eines Anschlags besonders hoch sei. „Sie haben mir gesagt, dass ich mich von Menschenansammlungen fernhalten soll“, sagt die Studentin, aber es sei ja nichts passiert. „Wir sind glücklich.“
Es war ein schwieriges Jahr für China. Die Probleme hatten mit einem Schneesturm im Süden begonnen, im Mai dann das Erdbeben in der Provinz Sichuan. Immer neue Horrormeldungen über Verschüttete, Verletzte, über Tote, 80 000 sind es am Ende. Hat vielleicht das Erdbeben die Menschen in China mehr beeinflusst, geprägt als Olympia? „Das sollte man nicht vergleichen, das Erdbeben war eine Katastrophe für China“, sagt die junge Studentin.
Zu negativen Ereignissen hat Zhang Xiao Yue eine besondere Einstellung, ihre Mutter hat ihr die beigebracht. „Ein Desaster ist kein Desaster“, sagt sie, „man muss das Gegenteil denken.“ Das klingt auf Chinesisch wie Pi ji tai lai und heißt: Das Böse gipfelt im Guten. So habe das Erdbeben die Menschen in China auch zusammenrücken lassen, sagt die Studentin, „wir haben unsere Hilfsbereitschaft und unseren Patriotismus entdeckt und konnten noch bessere Spiele organisieren.“
Das Jahr, auf das viele Chinesen seit 2001 hingefiebert haben, ist bald vorbei. Längst gab es andere Themen, erst der Milchskandal, jetzt die Finanzkrise. „Mich betrifft diese Krise nicht so sehr“, sagt die Studentin, weil sie ja noch nicht arbeite. Außerdem werde China die Finanzkrise bestimmt überstehen, die Zukunft werde glänzen.
Warum denn das? „Pi ji tai lai“, sagt Zhang Xiao Yue.
Benedikt Voigt, Peking, im Tagesspiegel, Montag, dem 8. Dezember 2008
Mitarbeit Bernhard Bartsch, Peking