2011 BMW Berlin Marathon Berlin, Germany September 25, 2011 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
BERLIN-MARATHON – Gefahr für die alte Ordnung – Berlin liebt Haile Gebrselassie – die Straßen der Hauptstadt muss er sich neu erobern – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
BERLIN. "Einige Läufer haben Schreikrämpfe gekriegt", erzählte Mark Milde, der Renndirektor des Berlin-Marathons, betroffen, nachdem er am Freitagmorgen mit seinen prominentesten Teilnehmern für einen Fototermin am Brandenburger Tor gewesen war. "Sie haben Haile gesehen und wurden vor Begeisterung hysterisch."
Auch Paula Radcliffe, die schnellste Marathonläuferin der Welt, staunte. Sie, die seit 2003 mit 2:15:25 Stunden den Weltrekord hält, blieb so gut wie unerkannt neben dem König der Straße. "Ich laufe seit 1992 regelmäßig hier", sagt Haile Gebrselassie. Gewiss haben ihn die Berliner kennen- und schätzen gelernt, seit er vor 19 Jahren als Nachwuchsläufer an einem Staffelrennen von Berlin nach Potsdam teilnahm – noch heute erwähnt er respektvoll, dass auch Olympiasieger Dieter Baumann dabei war.
Einige Istaf-Teilnahmen und Straßenläufe, vier Berliner Marathonsiege und zwei Weltrekorde später haben die Berliner den Äthiopier praktisch adoptiert. Doch das ist nur ein Teil seines Ruhms. Was der Sprinter Usain Bolt für die Leichtathletik in den Stadien ist, stellt der 38 Jahre alte Gebrselassie für die Welt des Langlaufs dar: den Maßstab und das Gesicht einer Sportart. Er ist der Einzige, der je einen Marathon in weniger als 2:04 Stunden absolviert hat; 2008 lief er in Berlin 2:03:59 Stunden – vergleichbar nur Bolts 9,58 Sekunden über hundert Meter.
Doch wie der Jamaikaner seinen Fehlstart im Weltmeisterschaftsfinale von Daegu hatte auch der Äthiopier seinen Aussetzer: beim New York Marathon des vergangenen Jahres. Da schied Gebrselassie mit dick geschwollenem Knie aus und erklärte, von vielerlei Schmerz überwältigt, spontan seinen Rücktritt – den er aber widerrief "So will ich nicht aufhören", betonte der 38-jährige Äthiopier am Freitag in Berlin zum wiederholten Mal. Der Marathon am Sonntag ist der Beginn des Finales seiner Karriere, wie er es sich vorstellt: Mit einer Zeit um 2:04, 2:05 Stunden wird er sich gegen die junge äthiopische Konkurrenz durchsetzen müssen, um bei den Olympischen Spielen von London 2012 sein letztes und größtes Ziel angehen zu dürfen.
"Die Goldmedaille im Marathon ist die wichtigste; für mein Land besonders", sagt er. Der Äthiopier Abebe Bikila wurde vor fünfzig Jahren beim Marathon von Rom erster Olympiasieger Afrikas, barfuß. Wenn ein Landsmann von Gebrselassies zwei Olympiasiegen erfahre, erzählte dieser, entwickele sich stets ein solcher Dialog: "Hast du den Marathon gewonnen? – Nein. 10000 Meter. – Na ja."
Ob Haile immer noch der Kaiser in der Königsdisziplin des Langlaufs ist, wird sich weisen müssen. Längst ist eine neue Generation von Himmelsstürmern herangewachsen. Ihr Star war, bis zu seinem tödlichen Fenstersturz im Mai, der kenianische Olympiasieger Sammy Wanjiru; er wollte, hatte er angekündigt, in diesem Jahr in Berlin den Weltrekord angreifen. Sein Landsmann Patrick Makau wird das am Sonntag an seiner Stelle versuchen. Im vergangenen Jahr siegte er in Rotterdam in 2:04:48 Stunden – nur drei Läufer, außer Gebrselassie, waren je schneller.
Für den Sieg beim Berlin-Marathon fünf Monate später brauchte Makau trotz strömenden Regens nur zwanzig Sekunden mehr. Weniger die Bescheidenheit des 26-Jährigen – "Ich hoffe, ich lerne etwas von Haile", behauptet er – als vielmehr seine Spurtkraft und die auffällige Zurückhaltung des Altmeisters sprechen dafür, dass die alte Ordnung gefährdet ist. "Gewinnen ist das eine", sagt Gebrselassie. "Für mich hat eine gute Zeit Priorität."
"Haile ist für uns ein Lottogewinn", schwärmt Renndirektor Milde. "Und Paula ist der Jackpot." Auch die 37 Jahre alte Engländerin läuft in Berlin, um sich mit einer guten Zeit für die Olympischen Spiele in ihrer Heimat zu qualifizieren. Die ebene Strecke ist bares Geld wert, deutet Milde an; die Spitzenläuferin und der Spitzenläufer haben für das Tempo Zugeständnisse bei den Antrittsgagen gemacht.
Paula Radcliffe lief ihren letzten Marathon vor zwei Jahren in New York, danach war Babypause. Auch sie gibt also am Sonntag ihr Comeback. Die BBC überträgt deshalb live, rund dreißig britische Journalisten sind eingeflogen, um zu verfolgen, wie sich die mögliche Goldfavoritin hält.
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen, das aus der Direktübertragung des bedeutendsten deutschen Laufereignisses ausgestiegen ist, nähert sich mit seinem Morgenmagazin dem Thema wieder an; Paula Radcliffe und Gebrselassie waren in die Sendung eingeladen.
Auch für Irina Mikitenko, zwei Mal Siegerin des London-Marathons, liegt das Ziel ihres Laufs am Sonntag jenseits des Brandenburger Tores, hinter dem dieses Rennen zu Ende geht. Im Visier hat sie, wenige Tage bevor sie im nächsten August 40 Jahre alt wird, die Goldmedaille von London 2012.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 24. September 2011