Symbolbild - Stadion - Foto: Horst Milde
Modernisierung der Leichtathletik – Balkenlose Freiheit: Ein Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Die neun Meter können kommen. Im Weitsprung soll das Hindernis, das zwischen Athleten und neuen Weltrekorden steht, entfernt werden: der Balken.
Die Besten der Besten sollen in einer Zone vor der Grube abspringen, ohne von Zielübungen zu Trippel- oder Riesenschritten gezwungen zu werden. Befreit könnten sie zu neuen Weiten fliegen. Irving Saladino aus Panama beteuerte schon vor Jahren, dass er neun Meter weit gesprungen sei – bei einem ungültigen Versuch: übergetreten.
Der Weltrekord von Mike Powell von 8,95 Meter, die als Sprung in die Zukunft bejubelten 8,90 Meter von Bob Beamon von Mexiko City 1968 werden für die Ewigkeit konserviert werden. Erreichbar scheinen sie, Monumente ihrer Sportart, seit Jahrzehnten nicht mehr.
Ebenso wie bei den Frauen die phantastischen Flüge der Sowjetrussin Galina Tschistjakowa 1988 auf 7,52 Meter, der Amerikanerin Jackie Joyner-Kersee 1994 auf 7,49 und der Deutschen Heike Drechsler vor und nach dem Fall der Mauer auf 7,48 Meter.
Unter den Besten dieses Jahrtausends liegen Sebastian Bayer mit seinem Sprung von Turin 2009 auf 8,71 Meter auf Platz drei, Malaika Mihambo mit 7,30 Meter von Doha 2019 auf Rang vier – und das war, wie sie gern bestätigt, nicht ihr bester Sprung.
Sebastian Coe, der Präsident des Leichtathletik-Weltverbandes, hat nach dem Großreinemachen und der Neuaufstellung seiner Organisation, die zu Zeiten seines Vorgängers Lamine Diack ein Hort der Manipulation und der Korruption gewesen war, nun die Modernisierung seines Sports angekündigt. Leichtathletik wird nicht gespielt wie Fußball. Ihre Faszination liegt in Duellen und Bestleistungen – allerdings in einem Spektrum, das von Hammerwurf bis Gehen, von Sprint bis Zehnkampf sich gelegentlich als verwirrend oder schier lähmend erweist.
Coe packt die Herausforderung mit der ihm eigenen Entschlossenheit an. 2026, zwischen den Weltmeisterschaften von Tokio 2025 und der von 2027, um die sich Rom, Peking, Istanbul und Abu Dhabi bewerben, soll ein neues, voraussichtlich dreitägiges Fest der Leichtathletik debütieren. Alle zwei Jahre soll es die Lücke zwischen Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen füllen. Es soll spannend sein und spektakulär, die Entscheidungen sollen schnell aufeinanderfolgen, und Erfolg soll mit so hohem Preisgeld belohnt werden, wie es World Athletics noch nie gezahlt hat.
Die Sportart will raus aus der Ecke, die für junge Zuschauer wirkt wie der Tanztee von Senioren, und glänzen auf Instragram und Tiktok.
Dafür gibt es viel zu tun, nicht nur Balken wegzuräumen. Wie erklärt man einem Teenager die Disziplin des Gehens, warum braucht man bei allgegenwärtigen Kameras Kampfrichter, die rote und weiße Fähnchen heben? Warum gibt es im Wettbewerb der Besten, ob im Kugelstoßen, Diskuswerfen oder Weitsprung, lange Wartezeiten auf die Entscheidung, ob der Versuch eines Topathleten vergebens war und die Aufmerksamkeit des Publikums verschenkt?
Neuerungen entwerten nicht die überkommenen Disziplinen. Sie bringen sie, bedrängt von der Attraktivität junger Sportarten, in die Gegenwart.
Niemand wünscht sich die Gewichte zurück, mit denen die olympischen Athleten der Antike Schwung nahmen beim Standweitsprung. Genauso wird es bald mit dem Balken sein.
Ein Kommentar von Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 26.2.2024