Noah Lyles - 2023 World Championships Budapest, Hungary August 19-27, 2023 Photo: Victah Sailer@PhotoRun
Wie Noah Lyles zum erwachsenen Sprinter wurde – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Schon lange gilt Noah Lyles als Sprinter mit der höchsten Endgeschwindigkeit. Nun hat der Amerikaner an Muskelmasse zugelegt, um auch beim Start mithalten zu können.
Sprints werden in Hundertstelsekunden entschieden. Aber sie werden lange vorbereitet. „Darin stecken acht Jahre Arbeit“, ruft Noah Lyles in einem Video, das er auf der Plattform X veröffentlicht hat.
Erst zeigt es seinen Jubel, dann seinen Sieg bei der amerikanischen Hallenmeisterschaft über 60 Meter – den ersten über Christian Colemann, der 2018 den Maßstab gesetzt hat auf dieser Distanz mit dem Weltrekord von 6,34 Sekunden. In 6,43 Sekunden schlug Lyles ihn um eine Hundertstelsekunde.
„Was Noah Lyles auf den 60 Meter getan hat, wird alle anderen 100-Meter-Läufer Gottesfurcht gelehrt haben“, behauptet Colin Jackson, britischer Fernsehkommentator und ehemaliger Weltrekordler über 110 Meter Hürden. Der schnellste 200-Meter-Sprinter war Lyles schon lange. Im vergangenen Jahr wurde er zum dritten Mal Weltmeister auf dieser Distanz. Zum ersten Mal siegte er in Budapest über 100 Meter. Nun meistert er offenbar auch die 60 Meter.
So sehr sich der 26-jährige über die Goldmedaille freuen würde, sind der kürzeste Sprint und die Starts in der Halle lediglich Teil eines Puzzles. Noah Lyles ist schon lange als der Sprinter mit der höchsten Endgeschwindigkeit bekannt. Doch er brauchte dafür einen zu langen Anlauf. Über 100 Meter verlor er häufig wegen seines miserablen Starts. Daran hat er mit seinem Trainer Lance Brauman gearbeitet.
„Er war schrecklich“, blickt der 26 Jahre alte Lyles zurück: „Ich war nicht stark genug, meine Position zu halten. Um deinem Körper Kraft abzuverlangen, musst du Muskeln haben. Die hatte ich nicht. Ich hatte den Körper eines Teenagers und habe versucht Erwachsenen-Sachen zu machen.“ Noch im vergangenen Jahr sprach er davon, dass er beim Start nicht mehr allzu viel auf die Besten verliere. Wenn er bis dreißig, vierzig Meter auf Armeslänge dranbleibe, könne er sie einholen und schlagen.
Im Winter vor zwei Jahren verbesserte Lyles seine Bestzeit über 60 Meter von 6,57 auf 6,55. Im Sommer wurde er vor seinem Heimpublikum von Eugene (Oregon) 200-Meter-Weltmeister in 19,31 Sekunden. Seitdem spricht er davon, den Weltrekord von Usain Bolt, 19,19 Sekunden, zu unterbieten. Im Winter des vergangenen Jahres verbesserte er sich auf 6,51 Sekunden. In Budapest wurde er zum ersten Mal Weltmeister über 100 Meter. In diesem Winter feilte er weitere acht Hundertstel ab von seiner Bestzeit.
Es ist nicht seine Reaktion, die der Läufer verbessert hat. In Jahren im Kraftraum hat er sich so viel Muskelmasse drauf geschafft, dass er sich nun endlich so stark aus dem Startblock katapultieren kann wie ein ausgewachsener Champion. Seine Rennen in der Halle erlauben einen Blick in die Werkstatt, in der Lyles und Brauman an den Erfolgen des Sommers werkeln.
Wohin das führen soll? Lyles macht kein Hehl aus seinen Ambitionen für die Olympischen Spielen von Paris.
Vier Goldmedaillen sollen es werden. Über 100 Meter, 200 Meter, in der Sprintstaffel und mit der Staffel über 4×400 Meter. Damit würde er Usain Bolt übertreffen, der in London 2012 und Rio 2016 je drei mal Gold gewann, die Ikone des Sprints.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 1. März 2024