Paris 2024 - Foto:: Paris 2024
Auf Eliuds Spuren durch die Nacht – Michael Reinsch, Paris in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Nachschlag Paris 2024!
In Paris können Freizeitsportler erstmals auf der Strecke der ganz Großen laufen. Doch dem Marathon und Olympia droht eine Trennung – wegen des Klimas. Warum das ein großer Fehler wäre.
Kein Wettbewerb ist enger mit den Olympischen Spielen verbunden als der Marathon. Der legendäre Lauf des Pheidippides, der 490 Jahre vor Beginn der Zeitrechnung von Marathon nach Athen gerannt sein, den Sieg über die Perser mitgeteilt und vor Erschöpfung gestorben sein soll, wäre heute vergessen, hätte nicht Pierre de Coubertin ihn bei seiner Wiederbelebung der Olympischen Spiele 1896 in Athen aufgegriffen.
Im Marathonlauf setzte er der, sagen wir mal, gut ausgedachten Geschichte ein Denkmal.
Ob Berlin, London oder Tokio, ob New York, Boston oder Chicago: der Marathon ist überall exakt 42,195 Kilometer lang. Die merkwürdig krumme Distanz entspricht weder der angenommenen Länge eines historisch zweifelhaften Wegs, noch entspringt sie der Umrechnung disparater Maßeinheiten. Auf Englisch ist die Strecke 26 Meilen und 385 Yards lang. Und zwar exakt seit dem 26. Juli 1908, an dem Eduard VII., König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland, König der Dominions und Kaiser von Indien, sein Wunsch erfüllt wurde, dass der Marathon der Olympischen Spiele von London nicht nur vor der Königlichen Loge im Stadion von White City enden, sondern auch vor einer Terrasse im Park von Windsor Castle beginnen möge.
Dreizehn Jahre später schrieb der Weltverband der Leichtathleten die unter royalem Einfluss zufällig entstandene Distanz im Regelwerk fest.
Ikonisch ist das Foto des unglücklichen Ersten jenes Laufes geworden, des Italieners Dorando Pietri. In der Hitze jenes Tages erlitt er vermutlich einen Hitzeschlag, verlor die Orientierung, wankte mal vom Ziel weg, mal in dessen Richtung und stürzte schließlich im Stadion so häufig, dass ihm mitfühlende Zeitgenossen unter die Arme griffen und über den Zielstrich halfen. Die Folge waren die Disqualifikation, eine aufwühlende Zeitungsreportage von Arthur Conan Doyle, dem Erfinder von Sherlock Holmes, und schlagartige Berühmtheit.
Als wollte er Pietris Schicksal – nicht Ruhm, sondern Hitzeschlag – für die Zukunft ausschließen, hat der Präsident des Weltverbandes der Leichtathleten, Lord Sebastian Coe, zu Beginn der Leichtathletik-Wettbewerbe bei den Sommerspielen von Paris festgestellt, es sei an der Zeit, Marathon und Olympia voneinander zu trennen. Der Klimawandel werde zwar nicht die Veranstaltung von Olympischen Spielen in Europa verhindern. Doch für die Ausdauerwettbewerbe in Leichtathletik und Radsport gelte es, auf Frühjahr oder Herbst oder an andere Orte auszuweichen.
Schluss für den olympischen Marathon nach 128 Jahren?
Just in dem Moment, in dem Eliud Kipchoge nach seiner dritten Goldmedaille greift? Da Paris als erste Olympiastadt noch während der Spiele die Strecke für Freizeitläufer öffnet, zwar nur je 1012 Frauen und Männern, doch mit diesen 2024 ein Zeichen setzt für die weltweite, Millionen zählende Laufszene und sie einlädt zur Teilnahme an den Olympischen Spielen?
Da die Veranstalter mit der Startzeit von 21 Uhr demonstrieren, dass Marathon seine Teilnehmer nicht einmal im Hochsommer der Gefahr von Sonnenstich und Hitzeschlag aussetzen muss. Und wieso eigentlich Ausdauerwettbewerbe generell aus dem Sommer verschieben? Ist die Tour de France, auch in diesem Jahr wieder im Juli ausgetragen, nicht auch einer?
„Ausgerechnet die Sportart aus dem antiken Kanon, die in der Moderne zu einem massenkulturellen Phänomen geworden ist, aus den Olympischen Spielen entfernen zu wollen ist ein nicht nachvollziehbares Signal“, sagt der Sportwissenschaftler Detlef Kuhlmann, der sich als Autor und Herausgeber von Büchern über den Marathon einen Namen gemacht hat: „Ich halte das für falsch.“ Diskuswerfen, Weitsprung, Ringen – keine der antiken Sportarten finde eine solche Resonanz und habe so viele aktive Teilnehmer wie die olympische Distanz des Langlaufs.
Gewiss hat es bei der Weltmeisterschaft von Doha vor fünf Jahren trotz der Verlegung in die Nacht hässliche Szenen wie reihenweise Zusammenbrüche von Läuferinnen und Läufern beim Marathon gegeben. Doch zum einen ist Qatar nicht Europa, auf das der Präsident von World Athletics ausdrücklich abzielt. Zum anderen war es ganz entschieden Coe, der als Vizepräsident des Weltverbandes, der damals noch IAAF hieß und von Korruption durchzogen war, die Weltmeisterschaft an den Golf vergab mit dem Argument, der Sport erobere damit neue Märkte.
Für die Herausforderungen der Zukunft mit unerträglicher Hitze, hoher Luftfeuchtigkeit und der Zunahme von Starkregen mögen die Rezepte aus dem Königreich Qatar, die sich bei der WM 2019 vor allem in der Allgegenwart von mächtigen Kühlaggregaten und nicht minder gewaltigen, mit Gas betriebenen Stromgeneratoren manifestierte, nicht ganz State of the Art sein. Doch wenn europäische Städte darangehen, sich mittels Begrünung und Beschattung, mit Konzepten von Wassermanagement und Schwammfunktion sowie Wasserspendern und -sprühern im öffentlichen Raum auf so etwas wie qatarische Hitze vorzubereiten – warum soll ausgerechnet der Sport, der praktisch keinerlei Infrastruktur braucht außer Straßen und Plätze, der nicht mehr Ausrüstung bedarf als Hose und Schuhe, warum soll ausgerechnet der Marathon diese Städte verlassen, wenn das größte Fest des Sports gefeiert wird? Die Laufbewegung, die Millionen Menschen auf die Beine bringt und Milliarden Euro umsetzt, ist dort am stärksten, wo die meisten Menschen sind.
„Marathon gehört zu Olympia dazu“, sagt auch Werner Klein, Chefbundestrainer für die langen Läufe und das Gehen im Deutschen Leichtathletik-Verband. „Mag sein, dass der Klimawandel eingesetzt hat. Aber bei der Mixed-Staffel der Geher am Mittwoch mitten in Paris herrschten hervorragende Bedingungen.“ Bewegungsdrang und das Streben nach Gesundheit hätten unbestreitbar zu einer großen Laufbewegung geführt: „Bei den großen Stadt-Marathons sieht man, wie sehr die Menschen ihren Vorbildern nacheifern. Bewegung, Begeisterung – es gibt nichts Besseres, um Körper und Geist zu stärken.“
Auch er empfiehlt, sollten sich die Bedingungen verschärfen, die Marathons nicht an andere Orte zu verlagern und damit weitere Reisen zu initiieren, sondern die Startzeiten in den frühen Morgen oder auf den späten Abend zu verlegen. „Wenn man sich vorstellt, dass die Schwimm-Wettbewerbe hier in einem Rugby-Stadion ausgetragen werden, kann man zuversichtlich sein, dass die Möglichkeiten des Hitzemanagements und der Kühlstrategie längst nicht ausgereizt sind.“ Kühlwesten und Kappen mit Kühlfunktion gibt es längst, Eisbäder sind längst üblich.
Mark Milde, Race-Director des Berlin-Marathons, der nicht nur in jedem Jahr Ende September rund 40.000 Läuferinnen und Läufer auf die Straßen der Stadt bringt und dieser damit ein ganz spezielles, von Sport geprägtes und zeitweise vom Autoverkehr befreites Wochenende beschert, sondern dessen Organisation das Jahr durch Veranstaltungen hat, weist auf den Einfluss von Werbepartnern und Fernsehanstalten hin.
Stimmten sie zu, sagt er, könnten Startzeiten mühelos auf kühlere Tages- und Nachtzeiten verschoben werden.
Michael Reinsch, Paris in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Sonntag, dem 11. August 2024