2010 World Junior Championships Moncton, Canada July 19-26, 2010 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
Auf den Spuren der Wunderläufer – Kenias Geheimnisse – Robert Hartmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der Schwabe Marcel Fehr gilt mit seinen 19 Jahren als ein großes deutsches Nachwuchstalent im Mittel- und Langstreckenlauf. Immerhin wurde er souverän der deutsche Jugendmeister über 3000 und 5000 m. Und wer seine 800-m-Bestzeit von 1:48,84 Minuten hört, hebt schon einmal seine Augenbrauen.
Für den wachen Jugendlichen spricht, dass er nach bestandenem Abitur den Schluss zog, zunächst einmal ein Jahr lang auf die Karte Profitum zu setzen und sich im Land seiner stärksten Gegner umzuschauen. Also flog er tatsächlich vom 9. November an für vier Wochen ins kenianische Hochland, zusammen mit seinem Heimtrainer Uwe Schneider. Der wollte gleichzeitig mit den erfolgreichsten heimischen Trainern in Kontakt treten.
Auf der Kazi-Mingi-Farm der Lauflegende Kipchoge Keino schlugen die beiden für zwei und vier Wochen ihr Quartier auf. Dabei waren sie sich sicher, den Geheimnissen der kenianischen Erfolge hart auf der Spur zu sein. Auf der Spur der sogenannten Wunderläufer. Kaum waren sie in der Höhe von über 2100 m akklimatisiert, schauten auch bei Brother Colm O’Connell im vierzig Kilometer entfernten Städtchen Iten vorbei, beim inzwischen 63 Jahre alten Iren. Im gelang das Kunststück, mit Wilson Kipketer und David Rudisha die beiden letzten 800-m-Weltrekordler herausgebracht zu haben. Eine größere Kompetenz kann die Leichtathletik kaum bieten.
Und was sagte Colm bei ihrer ersten Begegnung? „Wenn du glaubst, es gibt ein kenianisches Geheimnis, dann hast du schon verloren.“ Dabei sah er Fehr von oben nach unten an, nachdem er dessen erste Trainingseinheit neugierig beobachtet hatte. Dabei sah er einen 1,80 m großen und sehr schlanken jungen Mann. Mit seinem Lastkraftverhältnis hätte er auch ein kenianischer Läufer sein können. Idealer geht’s nicht. Dabei ist er kein früherer Nomade…
Colm tat noch ein Übriges und lud Fehr in sein Haus ein und ermunterte ihn ein paar Tage später sogar, solange zu bleiben, wie er wolle. Seiner kleinen Gruppe gehören neben Rudisha auch Augustine Choge und Iaak Songok an, die Nummern eins, 13 und sechs der „ewigen“ Weltranglisten. Mit Zeiten von 1:41.01 über 800 m, 3:29,49 über 1500 m und 12:12:48,66 Minuten über 5000 m. Aus Deutscher muss man da schlucken.
Weshalb wollte der Ire vom Bruderorden St. Patrick sich Fehrs annehmen? In seiner Diplomarbeit in Geographie beschäftigte er sich mit dem Fluss Rhein. Später, im Jahr 1984, machte er sein Sportlehrer-Diplom bei dem Heidelberger Entwicklungshelfer Walter Abmayer. Genauso wie Jimmy „Simba“ Beauttah. Der Kenianer leitet das gemeinsame Höhentrainingslager des Internationalen Olympischen Komitees und des Weltdachverbandes der Leichtathleten.
Es liegt auch auf der Kazi-Mingi-Farm, und Fehr hat dorthin nur dreihundert Meter Fußweg. Simba brauchte unter anderen Moses Kiptanui und Daniel Komen nur Weltklasse. Der Erste durchbrach die Acht-Minuten-Grenze über 3000-m-Hindernis, und der zweite hält schon im 15. Jahr den 3000-m-Weltrekord in der Zeit von 7:20,67 Minuten.
Der Gedanke drängt sich auf, dass da zwei Männer am Äquator womöglich deutschenfreundliche Gefühle haben. Auch Simba beschäftigte sich eingehend mit Fehr. Besonderen Wert legte er auf das technische Laufen. Seine Korrekturen nahmen kein Ende. Abends nach dem Essen fachsimpelten die Trainer untereinander. Schneiders Erkenntnis: Die im Training gelaufenen Zeiten sind nicht so wichtig. „Du musst dem Athleten in die Augen schauen“, sagte Simba. Darin spiegele sich schnell jede Überforderung.
Der deutsche Gast erfuhr auch aus erster Hand, dass er sich bei manchen kenianischen Wunderzeiten nur wundern konnte. Ein Beispiel. Colm fragte Rudisha, ob er den neuen U-18-Weltmeister kenne, der ja ein Massai wie er wäre. Dessen Rekordzeit lag jetzt bei 1:44,08 Minuten„Ja“, kam die Antwort des 23-Jährigen, „und er ist älter als ich.“
Wohl durch Bestechung erhalten in Kenia die Läufer jede Geburtsurkunde, die sie möchten. Danach durfte Fehr feststellen, dass auch in Kenia der Leistungshöhepunkt kaum vor 25 Jahren erreicht wird. Genauso wie in Deutschland. Fehr: „Wenn wir die Superleistungen von ostafrikanischen Teenagern hören, resignieren viele schon, ohne zu bemerken, dass wir in die Irre geführt werden.
Übrig als Erklärung für die kenianische Überlegenheit bliebe demnach besonders die Motivation, aus der Armut herauskommen. Ein Läufer sagte einmal, 95 Prozent von ihnen entstammten aus sehr armen Familien. Die Höhenlage spielt allenfalls eine kleine Rolle. Hilfreich ist auch das Klima, das einzigartig gerade in der Gegend um Eldoret herum ist. Es ist ausgesprochen bekömmlich, mit Temperaturen zwischen 12 Grad nachts und 25 Grad tagsüber.
Eine neue Sorge treibt die Verantwortlichen in Kenia um. Es besteht nämlich die Gefahr, dass sie sich „zu Tode“ siegen. Schon hat die IAAF den Turnus der Cross-Weltmeisterschaften von jährlich auf alle zwei Jahre geändert. Wenn den Kenianern überhaupt noch einer dazwischen funkt, dann sind es die Nachbarn aus Äthiopien. Dagegen, dass die Weißen in den Laufwettbewerben aussterben, unternehmen in erster Linie die Amerikaner enorme finanzielle Anstrengungen.
Das Go West der ersten Siedler liegt ihnen offenbar noch im Blut. Diese Neugier auf ein Abenteuer jenseits des Horizonts. Über 10 000 m taucht in diesem Jahr in der Weltbestenliste unter 19 Kenianern und fünf Äthiopiern ihr Galens Rupp (26:48,00) auf Platz vier auf. Und zur Zeit trainieren nicht weniger als achtzig britische Langstreckler und Marathonläufer oben in Iten, finanziert von Londoner Marathon-Veranstalter. Die nächsten Olympischen Spiele in London werfen ihre Schatten voraus. Fehr und sein Trainer dagegen finanzierten ihre Reise selbst.
Sie erhielten jedenfalls, was sie wollten: leben und trainieren mit dem Einheimischen. Und eine Menge neuer wertvoller Erkenntnisse. Allein Dieter Baumann suchte erstmals vor seinem 5000-m-Olympiasieg in Barcelona 1992 die Begegnung mit der kenianischen Konkurrenz. Danach flog er jährlich zum Trainingslager Niahururi, anfangs ganz allein. Den Mutigen gehört die Welt. Mit Fehr hat wieder ein Schwabe den gleichen Ehrgeiz. Nach fast zwanzig Jahren.
Dass er offene Türen einrannte, lag dann an dem immer dringlicheren Wunsch auch seiner Gastgeber Colm und Simba, dass einzig Konkurrenz auch das Laufgeschäft belebt.
Und der junge Deutsche könnte durchaus ein willkommener Gegenspieler sein.
Robert Hartmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 24. Dezember 2011