2016 USA Olympic Trials Eugene, Oregon July01-10, 2016 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET
Anreise nach Rio – Wo geht’s hier bitte zu Olympia? – Christian Eichler und Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Olympia ist seit hundertzwanzig Jahren eine Reise wert. Wenn auch vielleicht nicht jede. Als die amerikanischen Sportler zur olympischen Premiere 1896 nach Athen reisten, zahlte der Bankierssohn Robert Garrett für sich und drei Kommilitonen die Atlantik-Überfahrt erster Klasse auf der „Fulda“ nach Bremen, weiter ging es über Gibraltar nach Neapel, dann per Zug nach Brindisi, per Schiff nach Patras, per Zug nach Athen.
Dort waren die lustigen Studenten überrascht, dass sie viel zu früh angekommen waren. Der in Griechenland damals noch übliche julianische Kalender hinkte dem gregorianischen um zwölf Tage hinterher.
Das Leben heutiger Sportler wird von einem anderen Kalender beherrscht, dem Terminkalender. Für viele ist Olympia nur ein Termin, der zwischen zwei andere passen muss. Das verlangt nach zügigen Transfers – die manchmal nicht so verlaufen wie geplant.
So wie bei Agnieszka Radwanska. Die polnische Tennisspielerin benötigte 55 Stunden, um Anfang vergangener Woche von ihrem Turniereinsatz in Montreal nach Rio zu kommen. Ihr Flug war verspätet, verlor dann weitere Stunden, weil das Flugzeug zu schwer zum Abheben war, so verpasste sie den Anschlussflug in New York, von wo aus es dann, um rechtzeitig nach Rio zu kommen, nur noch die doppelte Atlantik-Überquerung mit Stopp in Lissabon gab.
Vor Wut den Schläger zerschmettert
Der sportliche Aufenthalt bei Olympia dauerte dann, nach 55 Stunden Reise, 99 Minuten im Einzel. Entnervt und erkältet verlor die Wimbledon-Finalistin von 2012 ihr Erstrundenspiel gegen die Chinesin Zheng Saisai. Sie zerschmetterte vor Wut ihren Schläger, was auch nichts mehr änderte, der unfreiwilligen Meilensammlerin aber „wenigstens das Gefühl gab, noch genug Power zu haben, einen Schläger zu zerstören“.
Immerhin hatte sie ihr Arbeitsgerät bei der Ankunft in Rio vorgefunden, es war ihr, direkt von New York aus, sogar vorangereist – anders als bei dem Golfer Emiliano Grillo, der am Montag verzweifelt über die sozialen Medien einen Hilferuf aussandte. Denn die amerikanische Airline seines Vertrauens fand die Tasche mit Grillos Golfschlägern nicht. „Ich werde die Chance auf Olympia verpassen!“, klagte der Argentinier – konnte am Dienstag aber dann glücklich ein Bild verbreiten, das ihn auf dem Boden liegend in inniger Umarmung mit einer Geliebten zeigte, seiner Golftasche. „Ich werde dich nie wieder gehen lassen“, schrieb er dazu: „Bis zum nächsten Flug.“
Ein Quell logistischer Überraschungen sind seit jeher auch die Reisebuchungen afrikanischer Sportler. Die nigerianische Fußballmannschaft, die sich in den Vereinigten Staaten auf das Turnier vorbereitet hatte, sah sich vergangene Woche tagelang in Atlanta gestrandet. Erst mit zweitägiger Verspätung erreichte sie Brasilien – sechs Stunden vor Anpfiff ihres Auftaktspiels in Manaus, das sie unbeeindruckt 5:4 gegen Japan gewann.
Die Version des Sportministers lautete, dass die Nigerianer, wie zu Hause üblich, einfach beim Abflug ihre Tickets kaufen wollten, was in Atlanta aber nicht klappte, weil nicht genug Plätze für alle verfügbar waren. Die Version, die afrikanische Medien verbreiteten, lautete anders: Die Tickets seien gebucht, aber einfach nicht bezahlt worden.
Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erzählen – das könnte aber auch ein kenianisches Sprichwort sein. „Sabotage“, schimpfte Speerwurf-Weltmeister Julius Yego, als sein Trainer ihm erzählte, wie lange, besser: wie kurz dieser ihn in Rio betreuen würde. Das Nationale Olympische Komitee hatte die Flüge so gebucht, dass Joseph Mosonik erst am Tag vor Yegos Wettkampf eintreffen und vor dem Finale abreisen würde.
Mit seinen Beschimpfungen der Mitarbeiter des NOK, des Sportministeriums und des Leichtathletik-Verbandes verursachte der Athlet solchen Wirbel, dass „Radio Africa“ in Nairobi seine Hörer zu Spenden aufrief: Man wolle dem Trainer neue Tickets kaufen.
Da traf Yego zum Abflug des Teams am Jomo-Kenyatta-Airport ein und stellte fest, dass es noch viel schlimmer war. Für ihn wie für 1500-Meter-Hoffnung Elijah Motonei Manangoi und die zweimalige Marathon-Weltmeisterin Catherine Ndereba hatte der Delegationsleiter keine Tickets. Daraufhin weigerte sich das Team, das Flugzeug zu betreten. Streit und Streik dauerten eine Dreiviertelstunde, erst dann ging Team Kenia über Luanda auf die Reise nach Rio.
Funktionäre und Sportpolitiker waren telefonisch nicht zu erreichen, weil sie sich im Gegensatz zu wichtigen Trainern schon seit ein paar Tagen in Brasilien aufhielten beziehungsweise „an den Stränden von Copacabana und Ipanema räkelten“, wie es in kenianischen Zeitungen hieß.
Die Blätter erinnerten an den Skandal bei den Olympischen Spielen von London 2012, bei denen die Mannschaftskleidung nicht für alle kenianischen Athleten gereicht hatte, und forderten, die Verantwortlichen zu bestrafen.
Zumindest polizeilichen Ermittlungen flog unterdessen der Geschäftsführer von „Kenya Athletics“ entgegen, Michael Rotich. Er war, noch in Kenia, auf den Trick von Journalisten des Westdeutschen Rundfunks und der „Times“ aus London hereingefallen, die sich als Trainer und Manager auf der Suche nach Gelegenheiten zum Doping ihrer Athleten ausgegeben hatten.
Mit versteckter Kamera nahmen sie auf, wie Rotich, ein pensionierter Offizier der kenianischen Armee, bei Champagner und Häppchen anbot, Doping-Kontrollen nach ihren Wünschen zu terminieren. Zehntausend Dollar, fand er, seien für drei Monate solcher Sicherheit ein angemessener Preis. Kaum waren die Reportagen in der Welt, buchte Rotich seinen Rückflug, fehlerfrei.
Anders als im Jahr 2016, wenn man als Athlet am besten einige nicht gekaufte negative Doping-Tests im Gepäck haben sollte, durfte 1896 praktisch jeder, der die beschwerliche Reise zu Olympia geschafft hatte, auch mitmachen. Einzige Voraussetzung: ein belegbarer Amateurstatus.
Das wurde dem Italiener Carlo Airoldi zum Verhängnis. Er hatte keine Bescheinigung dabei. Seine sportliche Leistung war dennoch vielleicht die größte der ersten Spiele: eine Anreise zu Fuß, 1500 Kilometer von Mailand bis Athen.
Christian Eichler und Michael Reinsch, Rio de Janeiro in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 10 August 2016