Blog
22
09
2021

Tokio - Olympische Spiele 2020 - 800 m der Männer - 2020 Tokyo Olympic Games Tokyo, Japan July 29-August 8, 2021 Photo: Andrew McClanahan@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET

ANNETT STEIN UND DAS DORF POTEMKIN – Ein Kommentar zur Replik der DLV-Cheftrainerin zum FAZ-Interview mit Jürgen Mallow – Von Dr. Wolfgang Blödorn

By GRR 0

Kritik am DLV scheint abzuperlen wie Regen an Wasservögeln. Mallows Feststellung im FAZ-Interview, „in Tokio erfolgte ein totaler Absturz“ erwidert die DLV-Cheftrainerin, Mallow verstünde das Vorgehen im DLV nicht. Das mag sein, aber Mallow ist nicht allein mit seinem Unverständnis, was im DLV geschieht!

Zunächst einmal muss man festhalten, Mallow und Andere kritisieren die Arbeit des DLV in der Vergangenheit. Annett Stein dagegen spricht von einer Zukunft, in der alles besser werden soll. Zu dieser Zukunft führt sie allerdings keine konkreten Beispiele mit Substanz für notwendige Veränderungen und damit Hoffnungen in organisatorischer, struktureller oder personaler Hinsicht an.

So z.B. zur Frage, wie das erwartete Potential der Athleten gefördert werden soll.

Stein spricht davon, dass das Leichtathletikteam keine Handballmannschaft sei. In ihrer Replik spricht sie dann aber ausführlich von Staffelwettbewerben. Diese sind allerdings sind Mannschafts- und keine – wie in der Leichtathletik sonst üblich – Einzelwettbewerbe. Um Letztere geht es aber in der Leichtathletik und der Kritik am vergangenen internationalen DLV-Abschneiden!

Zumindest gibt die DLV-Cheftrainerin zu, mit den Ergebnissen der Trainingsperiodisierung und den daraus folgenden Ergebnissen in Tokio nicht zufrieden zu sein. Sieht in deren Defizit aber keine hausgemachten und strukturellen Fehler der Bundestrainer – weder in der Trainingsplanung noch in der Kommunikation mit den Heimtrainern. Systematische Fehler erkennt sie nicht. Es war eben die fehlende Tagesform! Einfach Pech! Ja, wer aber ist denn für die Herausbildung der Tagesform, für „die optimale Balance zwischen Belastung und Erholung“ eigentlich zuständig, wenn es nicht die Bundestrainer mit ihrer Fachkompetenz und der Beratung der Heimtrainer sind? Soll diese Verantwortung für dieses Defizit etwa auf die Heimtrainer oder die Athleten abgewälzt werden? Hoffentlich nicht!

Wenden wir uns aber dem positiven Teil der Replik der DLV-Cheftrainerin zu: Annett Stein spricht den Athleten im DLV-Team Potential für eine erfolgreiche Zukunft zu. Stein besetzt die zukünftigen Erwartungen an die DLV-Athleten positiv. Damit verstreut sie notwendigen Optimismus. Diesen benötigt der DLV und das Leichtathletikteam D auch für die Zukunft. Insofern wird sie einem Teil ihrer Aufgabe gerecht. Optimismus darf allerdings nicht Realismus verwechselt werden! Realismus hat etwas mit der Akzeptanz von Fakten zu tun.

Wie berechtigt ist nun der vom DLV ausgestrahlte Optimismus?

Die Ergebnisse von Tokio waren sozusagen punktuelle Ergebnisse. Sie spiegeln die Leistungsfähigkeit nur zu einem bestimmen Zeitpunkt wider. Auch aus Sicht von Annett Stein waren die zeitbezogenen, punktuellen Leistungen nicht zufriedenstellend.

Anders formuliert: Der DLV hatte von seinem Team D mehr erwartet. Zu Recht?

Erwartungen sollten einen konkreten Hintergrund von Fakten besitzen. Hoffnungen und Wunschvorstellungen sind in diesem Fall nicht zielführend. Im Falle der Leistungen der Athleten könnten dies z.B. die erzielten Jahresbestleistungen sein. Diese Leistungen sind nicht punktuell und von der Tagesform abhängig. Hierzu hatte man eine Wettkampfsaison Gelegenheit. Am besten wäre es natürlich, wenn man sie zum Wettkampfhöhepunkt erzielen würde. Hieran sind allerdings die meisten Athleten in Tokio mit ihren Trainern gescheitert.

Es bietet sich demnach an, zur Überprüfung der Aussage Steins, die Tagesform habe unglücklicherweise gefehlt und die Athleten besäßen ein besseres, höheres als bisher gezeigtes Potential, einen Blick auf die Weltbestenliste 2021 zu werfen. Der dort ausgewiesene Rangplatz könnte ein Maßstab zur Antwort auf das vorhandene Potential der Athleten in den verschiedenen Disziplinen bieten.

Die nachfolgende Tabelle gibt den Rangplatz der DLV-Athleten in der Weltbestenliste 2021 wider. Sie führt die Rangplätze der besten DLV-Athleten auf. Es erscheint i.d.R. unwahrscheinlich, dass Athleten, welche in der Rangfolge weiter hinter den Besten liegen, größere Hoffnungen tragen könnten.

Tab.: Rangplätze der DLV-Besten bei den Stadionwettkämpfen in der Weltbestenliste 2021 (Stand 18.09.2021)

grün markiert entspricht Platz 1 bis 10

schwarz markiert entspricht Platz 11 bis 30

rot markiert entspricht schlechter als Platz 30

Ein Blick auf die Weltbestenliste von 2021 macht den gegenwärtigen Leistungsstand der besten DLV-Athleten in den Einzeldisziplinen vor den Olympischen Spielen in Tokio deutlich: Sieben Athleten (zweimal männlich und fünfmal weiblich) sind mit ihren Platzierungen unter den ersten Zehn der Weltrangliste 2021 zu finden.

Hingegen befinden sich 14 Athleten jenseits des Ranges dreißig (zwölfmal männlich und zweimal weiblich) in der Weltbestenliste. Die verbleibenden DLV-Besten befinden sich im „Niemandsland“ zwischen Platz elf und dreißig.

Die erbrachten Leistungen in Tokio waren keine Ausnahme, sondern der Normalfall!

Nun sollen die erzielten Leistungen der DLV-Athleten nicht schlecht geredet werden. Im Gegenteil! Das Leichtathletikteam D des DLV hätte es nicht verdient! Die Athleten haben mit Sicherheit in allen Wettkämpfen ihr Bestmögliches gegeben.

Die Tabelle ist ausschließlich als eine sachliche, faktenorientierte Einordnung in den internationalen Kontext der Leistungen der unterschiedlichen Einzeldisziplinen zu betrachten. Sie bietet einen faktischen, realen Hintergrund der optimistischen Einschätzungen und Äußerungen – möglicherweise sogar dem Wunschdenken – der DLV-Cheftrainerin im Namen des DLV.

Die Tabelle macht sehr deutlich, dass der DLV auch im Weltmeisterschaftsjahr 2022 vor einer sehr schwierigen Saison steht. Eine Trendumkehr der Ergebnisse der Olympischen Spiele darf man bei den Weltmeisterschaften in Eugene nicht unbedingt erwarten. Möglicherweise gelingt es bei der Heimeuropameisterschaft in München – besonders bei den Frauen – das eine oder andere Highlight zu setzen. Aber Europa ist bekanntlich nicht die Welt. Hier gelten strengere Maßstäbe.

Der ausgestrahlte Optimismus der DLV-Cheftrainerin besitzt für die Weltmeisterschaften in Paris wohl keine realistische Grundlage zur Realisierung, obwohl man es den Athleten wünschen würde. Wo und wie denn bitte, Frau Stein, kann konkret das verborgene Potential außerhalb der sieben grün markierten Disziplinen gefunden und gehoben werden?

Mit welchen organisatorischen und trainingsstrukturellen sowie personellen Maßnahmen will der DLV dieses verborgene Potential sichtbar machen und zum Erfolg führen?

Dem DLV sei angeraten, die berechtigten, auf Fakten bezogenen Kritiken von außerhalb ernst zu nehmen. Der DLV sollte sich den Gesprächen mit diesen Kritikern nicht entziehen und verschließen. Vielmehr sollte er sich diesen öffnen und Kontakt mit diesen Kritikern auf sachlicher Basis suchen. Hierfür ist allerdings auch eine bisher nicht wirklich erkennbare Bereitschaft zur Selbstkritik im DLV erforderlich.

Alles andere als eine selbstgerechte Betrachtung der Entwicklung der letzten Jahre erscheint angebracht zu sein. Ein weiter so, führt noch tiefer in die Sackgasse unzureichender internationaler Leistungen. Erneuerungen und Veränderungen auf allen Ebenen im DLV scheinen dringend erforderlich und unabänderlich, um wieder Anschluss an die Weltspitze zu finden.

Ziel der Veränderungen sollten die Olympischen Spiele 2024 in Paris sein.

Um hier in der Nationenwertung besser dazustehen, bedarf es nicht nur Wunschdenken und Optimismus, sondern vor allen Dingen einen realistischen Blick auf die Fakten und die Schaffung von entsprechenden Bedingungen – oder, wie Mallow meinte, der DLV müsse sich ehrlich machen!

Auf die konkreten und veröffentlichten Ergebnisse des „Athleten-Monitoring“ Ende September/Anfang Oktober darf man gespannt sein. 

Dr. Wolfgang Blödorn

PotAS-Bericht: Potenzialanalyse der olympischen Sommersportverbände 2019-2021
Auftraggeber: BMI & DOSB – Berichtsdatum – 20. September 2021

Abschlussbericht Sommersport 2020.09.20

author: GRR