Eliud Kipchoge will die Marathon-Strecke in weniger als zwei Stunden laufen. Dazu braucht er einen Kilometerschnitt von 2:50 Minuten. ©Victah Sailer
An der Schallmauer – 42,195 Kilometer in weniger als zwei Stunden – Breaking 2. – THOMAS HAHN in der Süddeutschen Zeitung
Auf ihrer Marathon-Mission machten die Wissenschaftler des Projekts Breaking 2 zuletzt auch in Kenia Halt, im Hochland nahe Eldoret, wo der Olympiasieger Eliud Kipchoge aus Kapsisiywa seine Trainingsgründe hat.
Breaking 2 ist eine Initiative des US-Sportartikel-Riesen Nike, ihr Ziel ist es, die klassische Marathon-Strecke von 42,195 Kilometern in weniger als zwei Stunden laufen zu lassen. Kipchoge ist einer von drei Auserwählten, die diesen Weltrekordversuch im Mai auf dem Formel-1-Kurs in Monza unternehmen sollen.
Das Team aus Physiologen, Ärzten und Produktentwicklern besuchte ihn, um an ihm neuartige Sportartikel und Strategien auszutesten – unter anderem ein aerodynamisches Pflaster für die Unterschenkel.
Sie waren auch als Botschafter der modernen, begüterten Wissensgesellschaft in die ruppige Landschaft des ostafrikanischen Grabenbruchs gekommen. Und gerade deshalb waren sie schwer beeindruckt, unter welch bescheidenen Bedingungen der hochdekorierte Weltklasse-Leichtathlet Kipchoge sein Training absolvierte; auf staubigen Sandpisten nämlich, im Pulk mit zahlreichen Landsleuten, ohne die Annehmlichkeiten eines ausgebauten Trainingszentrums.
Der Sportarzt Philip Skiba aus Chicago sagte im Magazin Runner’s World: „Es macht einen demütig, wenn man sieht, wie der Olympiasieger nach seinem Training kaltes Wasser in einem Eimer aus einem Brunnen zieht.“
Laufen ist die ursprünglichste Art der menschlichen Fortbewegung, mehr als ein Sport oder irgendeine Fitnessübung: ein Naturinstinkt, der etwas darüber erzählt, was der Körper des Homo sapiens leisten kann, wenn er nicht künstlich mit Material, Maschinen und Motoren beschleunigt wird. Jeder Marathon und jeder andere leichtathletische Wettlauf ist deshalb – vorbehaltlich irgendwelcher Doping-Belastungen – immer auch ein Schauspiel für Erforscher des Lebens:
Wie schnell, wie lange kann sich der Mensch auf seinen zwei Beinen mit eigener Kraft fortbewegen? Auf diese Fragen gibt es praktisch bei jedem neuen Leichtathletik-Weltrekord auf den verschiedenen Laufstrecken eine neue Antwort. Im Marathon lautet sie derzeit 2:02:57 Stunden, seit der Kenianer Dennis Kimetto im September 2014 diese Zeit in Berlin auf flachem Kurs erzielte.
Aber viele Wissenschaftler glauben, dass sie die Langstreckenläufer – vor allem jene begnadeten aus dem ärmlichen ostafrikanischen Hochland – zu lange ihrer Ursprünglichkeit überlassen haben.
Der Ausdauerleister Mensch kann mehr, wenn er mehr darüber weiß, wie er seine Energie richtig einsetzt, sagen sie. Und nun tüfteln sie also daran, die Leistungsgrenzen neu zu definieren. Das Ziel, die Zwei-Stunden-Barriere zu knacken, steht symbolisch für diesen Anspruch. Lauter kluge Köpfe verfolgen ihn wie eine Marsmission. Marathon wird zum Laborprojekt, die schlichte Tätigkeit des Laufens rückt in den Fokus von Ingenieuren und Körperkundlern.
Insgesamt drei Initiativen arbeiten gerade an diesem Ziel. Breaking 2, das unabhängige Forschungsprojekt Sub 2 und eine namenlose Unternehmung des deutschen Nike-Konkurrenten Adidas. Letztere existiert allerdings eher als Gerücht; eine SZ-Anfrage dazu beantwortet Adidas nicht.
Am weitesten fortgeschritten ist Breaking 2.
Die Amerikaner gelten als extrem zielstrebig, wenn es darum geht, wissenschaftliches Know-How in den Dienst sportlicher Spitzenleistungen zu stellen. Das Laufen hat eine besondere Tradition in dem Unternehmen. Die Gründer Phil Knight und Bill Bowerman waren selbst Läufer. Laufschuhe mit griffiger Gummisohle und Schaumstoffdämpfung machten das Unternehmen in den Siebzigerjahren groß. Und den Spitzensport hat die Firma Nike schon immer als ein Spielfeld gesehen, auf dem sie mit leistungssteigernden Innovationen Werbung für sich machen kann.
Nikes Reichtum macht seit 2001 das sogenannte Oregon Project in Eugene möglich, durch das vor allem US-Läufer mit High-Tech-Trainingsmethoden den ostafrikanischen Naturtalenten Konkurrenz machen sollen.
Ein Stab um den umstrittenen Trainer Alberto Salazar ließ dort Athleten in Unterdruck-Häusern leben, um die Sauerstoff-Aufnahme-Kapazität ihres Blutes zu steigern, trimmte sie auf gelenkschonenden Anti-Schwerkraft-Laufbändern und arbeitete mit weiteren Tricks, von denen einige dieser Tage die US-Antidoping-Agentur und sogar die Sicherheitsbehörde FBI beschäftigen.
Breaking 2 ist eine zusätzliche Investition, bei der Nike zweierlei vermarktet: einerseits seinen Pioniergeist, andererseits seine neue Schuhtechnologie, die letztlich auch die Normalkundschaft in den Sportgeschäften interessieren soll.
Seine besten Vertragsathleten hat Nike mit der neuesten Schuhkreation an den Füßen testen lassen und die drei, die dabei die besten Fitness- und Effizienz-Werte zeigten, freigestellt vom herkömmlichen Rennbetrieb: den Marathon-Olympiasieger Kipchoge, 32, aus Kenia, den 35-jährigen Halbmarathon-Weltrekordler Zersenay Tadese (58:23 Minuten) aus Eritrea sowie den Äthiopier Lelisa Desisa, 27, Gewinner des prestigeträchtigen Boston-Marathons 2013.
Um das Trio schwirrt ein ganzer Kader aus Ingenieuren, Biomechanikern, Ernährungswissenschaftlern, Physiologen und Materialentwicklern. Sie wachen über die Form der Läufer und arbeiten an Strategien, die so gut wie jede Zeitverschwendung ausschließen sollen: intelligente Lösungen zur Flüssigkeitsaufnahme tragen dazu bei, im Windkanal getestete Kleidung, besagte Pflaster – und natürlich die individuell angepassten Superleicht-Schuhe, die mit ihrer Schaumstoff-Karbon-Sohle einen ökonomischen Energiefluss beim Laufen unterstützen sollen.
Für die historische Leistung nehmen die Breaking 2-Wissenschaftler sogar in Kauf, dass manche ihrer Ideen nach den Wettkampfregeln des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF gar nicht erlaubt sind: Windschattenformationen mit wechselnden Tempomachern und einem Leitfahrzeug zum Beispiel.
Schon die Wahl einer 2,4-Kilometer-Schleife auf dem Formel-1-Asphalt von Monza folgte intensiven Überlegungen zu Höhenlage, Wetter, Streckenprofil.
So behütet werden Kipchoge, Tadese und Desisa rennen bei ihrem Rekordversuch, dass sie sich für die 1:59:59 Stunden wahrscheinlich gar nicht viel mehr anstrengen müssen als für eine Zeit von 2:04 bei einem Rennen ohne besonderen Windschutz und maßgeschneiderte Strecke. Ihr eigentliches Tagwerk jedenfalls ist von der teuren Breaking 2-Revolution nicht betroffen gewesen. „Ins Training“, sagt Kipchoges Berater Jos Hermens, „haben sie kaum eingegriffen.“
Jos Hermens, einer der einflussreichsten Manager der Leichtathletik-Welt, ebenfalls ein früherer Läufer, sitzt in den Gemächern seiner Agentur Global Sports Communication in Nimwegen, Niederlande. Er ist fasziniert vom Breaking 2-Projekt. „Wir lernen so viel davon“, sagt er, und bei seinem Athleten Kipchoge stellt er ein neues Selbstbewusstsein fest, seit er eine Hauptfigur dieses Weltrekordversuchs ist.
Anfangs fand der Kenianer die Idee verrückt, einen Marathon mit einem Kilometerschnitt von 2:50 Minuten zu bestreiten. „Jetzt sagt er, ich kann das, ich glaube daran“, berichtet Hermens.
Trotzdem ist es für Hermens nicht ganz einfach, über Breaking 2 zu sprechen. Er sitzt ein bisschen zwischen den Stühlen. Denn eigentlich ist er mit dem Sportwissenschafts-Professor Yannis Pitsiladis von der Universität Brighton Vater der ersten umfassenden Wissenschafts-Initiative für einen Marathon unter zwei Stunden.
Aber die Stiftung Sub 2 hat nach ihrer Gründung Ende 2014 einfach die 30 Millionen Euro nicht zusammengebracht, die Pitsiladis für einen Fünf-Jahres-Plan zum Weltrekord veranschlagt hatte.
Sub 2 ist nicht nur das erste Projekt seiner Art, sondern auch das nachhaltigste. Yannis Pitsiladis hat es jedenfalls als echten Paradigmenwechsel in der Athletenbetreuung angelegt. Technologie-Sprünge beim Schuhwerk findet Pitsiladis wichtig. Jüngste Prognose-Berechnungen zu den Bedingungen eines Unter-Zwei-Stunden-Marathons wie sie zuletzt eine Forschergruppe von der University of Colorado in Boulder vorgelegt hat, hält er für belastbar.
Aber Materialfragen sind für ihn nur ein Aspekt in einem ganzen Paket aus Herangehensweisen. „Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz“, sagt er. Pitsiladis will tatsächlich die Biologie des Laufens neu denken.
Schon jetzt hat Sub 2 mit einer schwedischen Firma ein neuartiges Sportgetränk entwickelt, das mehr Kohlenhydrate als andere Drinks ins Blut der Läufer trägt, ohne dabei den Darm zu belasten; die endlichen Glykogenspeicher im Körper sind das Hauptproblem, wenn es darum geht, auf den letzten Kilometern des Marathons das Tempo hoch zu halten. Auch in der Ökonomie des Laufstils jedes einzelnen Läufers sieht Pitsiladis Potenzial. Und vor allem in den Analysen, die seit der Entschlüsselung der menschlichen DNA möglich sind.
Aus den Genen der Athleten will er Informationen für eine Art Präzisionstrainingslehre gewinnen, für individuelle Fitness-Programme und Physiotherapien. Sub 2 ist für Pitsiladis die Anleitung zu einem neuen Bio-Olympismus, in dem Doping überflüssig wird, weil es klügere Methoden gibt, um schnell zu sein. „Es geht darum, den Leistungssport zu modernisieren“, sagt Yannis Pitsiladis, „es geht darum, Athleten Alternativen zur künstlichen Leistungssteigerung anzubieten.“
Er blickt in eine Zukunft des Laufens, in welcher der Mensch einen neuen Zugang bekommen soll zu seinen ursprünglichsten Talenten.
THOMAS HAHN in der Süddeutschen Zeitung, Mittwoch, dem 15. März 2017
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