Am Ende waren die Fan-Feste ein großer Erfolg. Voraussetzung war zunächst einmal der technische Fortschritt mit Fernseh-Neuerungen, Großbildleinwänden und Videowalls.
Ein Weltereignis als Gemeinschaftserlebnis – Hans-Jürgen Schulke im „Olympisches Feuer“
Rund 30 Milliarden Menschen („Serientäter“ mehrfach gezählt) verfolgten das 4wöchige Spektakel WM 2006 irgendwann auf dem Bildschirm. Etwa 3 Mrd. – das ist fast die Hälfte der Weltbevölkerung – schaute sich das Endspiel an. Etwa 40-50 Millionen Menschen bemühten sich aktiv um den Erwerb eines nicht ganz billigen Tickets, der zum Besuch im Stadion berechtigt. Über 1 Million ausländische Besucher strömten mit und ohne Karten ins WM-Land.
Rechnerisch standen für die 64 Spiele selbst auf Grund der Kapazitäten in den 12 Stadien nur 3,1 Millionen Tickets zur Verfügung. Für den gemeinen Fußballfan fiel dabei tatsächlich nur ein knappes Drittel ab, denn zunächst waren internationale Sponsoren, Verbandsvertreter, Journalisten, Ehrengäste und hohe staatliche Repräsentanten zu versorgen. Rechnerisch kamen damit auf eine frei verfügbare Karte etwa 50 Kartenwünsche.
Insbesondere für die deutschen Fußballenthusiasten ein höchst unbefriedigender Zustand, zumal sie mit ihren Steuergeldern den Großteil des internationalen Fußballfestes bezahlt haben (rechnet man die für die WM aufgebrachten öffentlichen Mittel auf die Zahl der bei den WM-Spielen verfügbaren Sitzplätze um, so ist jedes Ticket mit deutlich über 1.000 Euro subventioniert worden!).
FIFA-Fan-Feste
Stimuliert durch das berechenbare Defizit im Ticketangebot, wurde in langwierigen Verhandlungen ein Konzept geboren, dass in wenigen Tagen zu einer bestimmenden Größe bei der WM 2006 mutierte: Die FIFA-Fan Feste. Ihr Grundgedanke ist ein 4 Wochen offen stehender Marktplatz im Herzen der großen Städte, der neben den ticketlosen deutschen Fans vor allem den über 1 Million ausländischen Fußballenthusiasten einen permanenten Anlaufpunkt mit multikulturellem Flair bieten sollte.
Ansturm
Das Ergebnis ist ein unerwarteter Ansturm auf die FIFA-Fanfeste in den Ausrichterstädten mit etwa 25 Millionen begeisterten Besuchen, der überall in der Welt bei der Berichterstattung bildreich dokumentiert und inhaltsschwer kommentiert wurde. Das Ausrichterland und die WM 2006 erschienen in einem neuen Licht.
Die Bedenken waren zunächst nicht wenige. Das OK des DFB wollte sich auf die Abläufe in den Stadien konzentrieren, die FIFA hatte ökonomische und rechtliche Probleme wegen Sponsoren und TV-Lizenzen, die Polizei hielt die Gefahr durch Hooligans für kaum beherrschbar, die Städte hatten keinerlei organisatorische Erfahrungen mit derartigen Langzeitveranstaltungen.
Am Ende waren die Fan-Feste ein großer Erfolg. Voraussetzung war zunächst einmal der technische Fortschritt mit Fernseh-Neuerungen, Großbildleinwänden und Videowalls.
Es gibt viele Möglichkeiten sich unterhalten zu lassen. In einer durchstrukturierten und verdichteten Arbeitswelt wächst der Bedarf an guter Unterhaltung. Der Fußball – heute zweifelsfrei das werthaltigste Produkt globaler Unterhaltungsindustrie – bietet hier Besonderes. Im Unterschied zu Theater, Malerei oder Musik ist sein Ende stets offen. Mit dem Prinzip der Chancengleichheit ermöglicht er jedem Beteiligten den Sieg. Entsprechend groß ist vorher das Wägen und Deuten, wächst die Spannung bis zum Anpfiff ins Unerträgliche, wird der Zuschauer vom Verlauf mitgerissen, beruft sich bei bestimmten Situationen auf das Schicksal, versucht durch Gesang und Geschrei Einfluss zu nehmen, wird schlussendlich von seinem Hoffen und Bangen erlöst.
Die Fußballspiele sind in einer globalisierten Gesellschaft spürbar weniger martialisch, von nationalen Weltmachtsansprüchen entkleidet – schließlich wird überall nach gleichen Regeln gespielt und sind in den Vereinsmannschaften Spieler vieler Nationalitäten versammelt. Nicht nationalistische Überlegenheit prägt mehr die Semantik, sondern mehr die Prüfung höherer Mächte. Da wird sich beim Betreten des heiligen Rasens bekreuzigt, die Zuschauer intonieren eine feste Liturgie, der Flankengott trifft auf den Berserker in der Abwehr, vor dem Elfmeterschießen werden höhere Mächte angerufen, der Torraum ist des Wächters Heiligtum, in den modernen Arenen gibt es mittlerweile Kapellen, und demnächst wird es statt Seebestattung selbiges mit den sterblichen Überresten eines Vereinsfans auf dem Stadionrasen geben.
Die Arenen sind heute ein Stück der mittelalterlichen Kathedralen, das Fanfest enthält einen Hauch Petersplatz der fußballspielenden Weltkirche.
Schon immer hat es die Menschen massenhaft zu großen Ereignissen gezogen. Gladiatorenspiele im alten Rom, der Einzug des Kaisers in seine Pfalz, die Hochzeit eines Herrscherpaars, Hexenverbrennungen oder Hinrichtungen sind markante und teils makabre Belege. Man war persönlich dabei, hatte die Akteure oder das Ereignis mit eigenen Augen gesehen, war authentischer Augenzeuge eines bedeutsamen – das eigene Schicksal vielleicht dauerhaft prägenden – Zeitabschnitts und kannte das Spektakel nicht nur vom Hörensagen.
Mit dem Fernsehen als ubiquitärem Informationsmittel hat sich die Zahl der Augenzeugen ins Grenzenlose gesteigert. Als Mittel des Austausches bedarf es gleichwohl einer gemeinsamen Sprache. Diese gibt es in einer einzigartigen Weise beim Fußball. Überall auf der Welt wird auf Plätzen mit gleichen Ausmaßen, nach gleichen Regeln und verständlichen taktischen Systemen gespielt. Sammelte man 22 Menschen aus unterschiedlichsten Ländern und Sprachen auf einem Fußballplatz, gäbe ihnen einen Ball – nach wenigen Minuten wären sie in der Lage, unter Einbehaltung der Abseitsregel lautstark wie sprachlos miteinander Fußball zu spielen.
Die Menschen vieler Herrn Länder auf den Fan-Festen sind Augenzeugen, die sich viel zu sagen haben. Auch deshalb treibt es sie immer wieder an diesen Ort zurück ins globale Dorf.
Enthusiasmus und Masse bilden das Schmiermittel, das in den Arenen wie bei den Fanfesten zu einer „ver-rückten“ Welt führten, die wenig mit dem Alltagsleben und seinen Verhaltensformen gemein hat. Durchaus modebewusste Menschen verkleiden sich in geschmacklos-karnevalesker Weise vor dem Spiel, einander gänzlich unbekannte Menschen umarmen sich nach einem erfolgreichen Balltritt in einer Intimität, die langjährigen Lebenspartnern vorenthalten wird. Fußball ist für viele Menschen der regelmäßig wiederholte Kurzurlaub im Sinne von Fastnacht oder Ballermann.
Er ist im Hochsicherheitstrakt Stadion streng reglementiert und observiert; auf den offenen Plätzen Fan-Feste weht noch ein Rest von Woodstock und Lichterketten. Emotionen werden augenzwinkernd ausgelebt, sind toleriert und erwünscht. Aggressionen werden hier nicht erzeugt, Enttäuschungen verstanden und gemeinsam getragen.
Seit knapp 20 Jahren können wir ein interessantes Phänomen beobachten. Es ist die Rückkehr des großen Sports in die City. Tatsächlich ist der moderne Sport in den Städten entstanden. Junge Leute widersetzten sich der von Schule, Beruf und Wohnung verschriebenen Bewegungseinschränkung und begannen auf einem Turnplatz zu turnen, ruderten auf dem vorbeiziehenden Fluss, betrieben beiläufig bei Straßenstaffeln leichte Athletik oder begannen in städtischen Parks mit dem Fußballspiel.
Das Wachstum und die verkehrstechnisch geprägte Verdichtung der großen Städte hat den Sport der jungen Leute aus der Innenstadt gedrängt; durch den Sport selbst forciert auf Grund seiner regeltreuen Wettkampforientierung sowie der Suche nach witterungsunabhängigen Sporthallen. Auch der Fußball hat viele seiner Stadien und Wettkampfstätten in den Innenstädten und wohnlichen Ballungszentren verloren; er etablierte sich in multifunktionalen Platzanlagen in der Nähe neuer und alter Wohngebiete.
Schweißtreibende Beweglichkeit kehrt zurück
Zunächst mit den Stadtmarathons, dann Radrennen und Triathlons, inzwischen Auto- und Skirennen, Beach-Volleyball und demnächst sogar Schwimmen in Einkaufspassagen und auf Rathausmärkten kehrt wieder schweißtreibende Beweglichkeit in ein Areal zurück, das bis dahin menschliche Lebendigkeit in Kleidung und Automobil versteckt hielt.
Auch und gerade der Fußball hat diesen Weg hinter sich. Seine Grundidee mit dem Spiel zweier Mannschaften auf das jeweils gegnerische Tor lässt noch die mittelalterliche Stadtstruktur erahnen: Das Kampfspiel jugendlicher Gruppen auf der geraden Ortsstraße, die an ihren Enden von je einem Stadttor begrenzt wurden und das es mit einer Art Ball zu treffen galt. Nicht zuletzt durch Verbote der Obrigkeit und des Klerus fand das Spiel eine Neuausrichtung in Parks, auf Exerzierplätzen oder Schulhöfen. Der Widerspruch zum disziplinierten Turnen, das leidenschaftliche Geschrei der Akteure, die Gefährdungen von Menschen, Marktständen und Kirchenfenstern durch einen scharf geschossenen Ball führten zu einem zunehmenden Verdrängungsprozess des Fußballspiels aus dem Zentrum.
Ein Moment kollektiver Erinnerung
Das Fan-Fest ist demnach auch ein Moment kollektiver Erinnerung, ein historisches Artefakt, das im heutigen hochmodernen Fußballspiel noch immer in Spuren enthalten ist. Das gemeinsame Mitfiebern auf einem innerstädtischen Platz wiederholt die Empfindungen, die unsere Vorfahren irgendwann im Mittelalter beim Betrachten jugendlicher Spielwut gehabt haben dürften.
Ausgerechnet die Fußball-WM 2006 hat diesen Brückenschlag zwischen Tradition und Moderne wie kaum jemals zuvor sichtbar gemacht.
Das kündigt eine große Zukunft gemeinsamen Sportlebens auch jenseits der Arenen an.
Hans-Jürgen Schulke im "Olympisches Feuer" 3/2006