Also ran an den Speck, her mit Eisbein, Sahnetorte und Dunkelbier? Nicht ganz. Die Wirklichkeit ist komplizierter.
Darf’s ein Kilo mehr sein? Dr. Hartmut WEWETZER im Tagesspiegel fahndet nach guten Nachrichten in der Medizin. Heute: Etwas Übergewicht schadet nicht
Seit meinem Urlaub schleppe ich ein Kilo zu viel mit mir herum. Wie ich es auch anstelle, irgendwie schaffe ich es nicht, die zwei Pfund wieder loszuwerden. Mein Körper klammert sich anscheinend an jedes Gramm. Vermutlich in der falschen Annahme, es werde für Notzeiten gebraucht. Ich bin da anderer Ansicht. Aber vielleicht täusche ich mich auch.
Denn eine neue Studie aus den USA belegt: Wer Übergewicht hat, lebt länger. Hat mein Bauch doch recht?
Wenn Sie jetzt stutzig werden, dann geht es Ihnen wie mir. Aber die Daten sind kaum von der Hand zu weisen. Katherine Flegal von der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC und ihre Mitarbeiter haben eine repräsentative Stichprobe der amerikanischen Bevölkerung untersucht und außerdem die Todesursachenstatistik ausgewertet. Ihre im Fachblatt „Jama“ ausgebreiteten Daten sind über jeden Zweifel erhaben.
Also ran an den Speck, her mit Eisbein, Sahnetorte und Dunkelbier? Nicht ganz. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Extreme beim Körpergewicht – viel zu wenig oder viel zu viel – sind stets schädlich. Auch das zeigt die Untersuchung. Anhand des Körper-Masse-Index (BMI, berechnet sich aus dem Körpergewicht in Kilogramm geteilt durch Körpergröße in Metern zum Quadrat) wurden die Menschen in Untergewichtige (BMI von 18,5 oder kleiner), Normalgewichtige (BMI bis 25), (leicht) Übergewichtige (25 bis 30) und Fettleibige (ab 30) eingeteilt.
Während leicht Übergewichtige ein geringeres Sterberisiko als Normalgewichtige hatten, war es bei Untergewichtigen, vor allem aber bei Dicken mit einem BMI ab 30 erhöht.
Bereits vor zwei Jahren hatten erste Ergebnisse der Studie Aufsehen erregt. Nun ermittelten die Forscher zudem, ob das Körpergewicht mit bestimmten Todesursachen verknüpft war. Übergewichtige sterben danach seltener an Alzheimer, Parkinson, Infektionen oder Lungenleiden als Normalgewichtige, ansonsten gab es kaum Unterschiede. Dicke sterben deutlich häufiger an Herz- oder Kreislaufleiden. Dünnen wird häufiger ein Atemwegsleiden zum Verhängnis.
Wer ein bisschen mehr wiegt, widersteht unter Umständen Krankheiten besser. Er hat „etwas zuzusetzen“, eine Art Knautschzone gegen bösartige Bazillen und andere Unbilden. Die Meinung der Wissenschaftler über den Nutzen von ein paar Pfund mehr geht dennoch auseinander. Der BMI des Übergewichtigen, zwischen 25 und 30 gelegen, könnte geradezu optimal sein, sagen manche Forscher. Aber die Studienleiterin Flegal widerspricht. Ihre Untersuchung eigne sich nicht für reißerische Behauptungen, es gebe keinen Grund, von der harten Linie in Sachen Übergewicht abzuweichen.
Vielleicht sollte man trotzdem alles weniger dogmatisch sehen. Der BMI ist nicht alles. Wer älter ist, darf etwas mehr wiegen. Wie bei den Bäumen: Mit den Jahresringen darf auch die Körpermasse wachsen. Jenseits des 55. Lebensjahres gilt hierzulande ein BMI von 28 als noch normal, jenseits des 64. sogar ein Wert von 29. Das klingt vernünftig.
Auch Übergewicht ist eben relativ.
Dr. Hartmut Wewetzer leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegels.
Der Tagesspiegel
Sonntag, dem 11. November 2007