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18
08
2008

Sport hatte immer Priorität im Leben des Tim Lobinger. Ein einziges Mal im Leben ist er in den Sommerferien verreist: Da fuhr er mit der Familie nach Südspanien und war nicht jeden Tag auf dem Trainingsplatz, sondern nur an drei, vier Tagen in der Woche.

Tim Lobinger – Sprünge ins Ungewisse – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Tim Lobinger kann kompetent über Fracht und Flüge sprechen. „Man braucht das Glück, dass jemand am Flughafen gut gelaunt ist und nicht nur die normale Ladeluke öffnet, sondern eine zweite aufschraubt, ein Netz abhängt, damit die Stäbe in den Frachtraum passen“, sagt er zum Beispiel. Oder: „Die 737-500 ist die kleinste Maschine, in die die Stäbe passen. Minimallänge ist 31,50 Meter. Drunter ist es aussichtslos.“

Lobinger verfügt über die Telefonnummern einer Reihe von Experten an den Flughäfen Europas und der Fluglinien der Welt. Das ist kein Spleen. Zu den Olympischen Spielen in Peking bringt Lobinger als einer der wenigen seine eigenen Stäbchen mit. Sie sind 5,20 Meter lang, aus glasfaserverstärktem Kunststoff gefertigt, haben einen Wert von jeweils knapp 1000 Euro und stecken zu siebt in einer robusten Hülle. Er braucht sie, um seinem Beruf nachzugehen. Lobinger, 35 Jahre alt, 1,93 Meter groß und sehr muskulös, ist Stabhochspringer.

In Wirklichkeit hat der Rheinländer, der seit eineinhalb Jahren in München lebt, viele Berufe. Denn um mit dem Stab bis zu sechs Meter hoch zu springen, wie es ihm 1997 und 1999 gelang und wie er es wieder schaffen muss, um an diesem Freitag Olympiasieger zu werden, muss Lobinger nicht nur sein Training organisieren. Er muss sich um das Trainingslager kümmern, Wettkämpfe auswählen, Verträge schließen, anreisen. Der Athlet im Unterhaltungsgeschäft ist nicht mehr freischaffender Künstler, wie die Finanzämter es früher sahen, sondern Gewerbetreibender.

Lobinger unterhält deshalb die Tim Lobinger Sport- und Event-Agentur, eine GbR. Was nicht sein Management „Taste One“ in Leverkusen übernimmt – die Vertragsverhandlungen mit den Veranstaltern und die Rechnungslegung –, macht der Athlet selbst.

1800 Euro Spritgeld in einem Monat

Da ist er mal Reisebürokaufmann, mal Logistikfachmann, mal Trainer, mal Ernährungsberater, mal Psychologe, und mal akquiriert er Sponsoren. Manchmal veranstaltet er sogar selbst Springen. Wie früher in Köln das Springen auf der Domplatte hat Lobinger im Juli auf dem Ringfest zum 850. Geburtstag Münchens ein Stabhochspringen auf die Beine gestellt. „Ein Happening mit meinen Freunden“, nennt er es. Im nächsten Jahr soll es weitergehen.
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Wie jeder Selbständige kann Lobinger leidenschaftlich klagen. 1800 Euro hat er allein im Juni für Sprit bezahlt, für 22 Tankfüllungen. „Und da ist der Verschleiß noch gar nicht dabei!“ Reisekosten machen den Löwenanteil der Belastungen des Unternehmers Lobinger aus, zumal Veranstalter nicht nur weniger, sondern zunehmend auch pauschal bezahlen. „15.000 Dollar für einen Sieg, das ist Neunziger-Jahre-Musik“, erinnert sich der Springer. „Heute gibt es im Idealfall 5000 Dollar.“ Durch den Kursverfall ist das deutlich weniger als ein Drittel des damaligen Wertes.

Lobinger war einer der ersten Leichtathleten, die ihr Geschäft als Unternehmen aufzogen. Als er vor fast zwölf Jahren den Sportverein Bayer Leverkusen verließ, beschäftigte er erstmals selbst einen Trainer, statt einem Trainer zu dessen Verein zu folgen. Inzwischen startet Lobinger für den SV Stadtwerke München und lässt sich von dem ehemaligen Stabhochspringer Chauncey Johnson aus Südafrika trainieren. „Was er wert ist, könnte ich gar nicht bezahlen“, sagt Athlet und Arbeitgeber Lobinger. Johnson veranstaltet Trainingslager in Südafrika, was ihm ermöglicht, für Lobinger auf Honorarbasis tätig zu sein.

Verwöhnte Organisatoren, niedrige Prämien

Gut ein Dutzend Wettkämpfe bestreitet Lobinger in der Hallensaison, dreißig bis vierzig über den Sommer. Im besten Fall nimmt er von einem Wettkampf in Deutschland 4000 Euro mit, einschließlich Höhenprämie, wenn es über 5,70 Meter geht, sowie Kost und Logis für Springer und Trainer an zwei Tagen. Ein verlorener Wettkampf ist ein Verlustgeschäft. Und man muss überhaupt starten dürfen. „Die Meeting-Direktoren sind so verwöhnt und ignorant, dass sie die Teilnahme erst acht Tage vor einer Veranstaltung bestätigen“, schimpft Lobinger. „Man fragt acht Wochen vorher an, dann verweisen sie auf das Bonus-System, das im Internet veröffentlicht ist. Startgeld gibt es nicht. Und eine Zusage erst sieben Wochen später.“ Früher überwies das Fernsehen den Veranstaltern fürstliche Honorare, die in Athletenverpflichtungen flossen. Heute zahlen die Veranstalter, damit das Fernsehen überhaupt überträgt. „Sponsoren und Ausrüster zahlen schlechter“, sagt Lobinger, „die Athleten verdienen schlechter.“

Lobinger springt bei den Olympischen Spielen buchstäblich ins Ungewisse. Nicht nur hat er noch keinerlei Startzusage für die Wochen nach den Olympischen Spielen. Obendrein laufen alle seine Sponsorenverträge zum Saisonhöhepunkt aus – mit dem Sportartikelhersteller Puma, dem Ernährungsunternehmen Cellagon, dem Motorenkonzern Suzuki sowie Oakley-Sonnenbrillen. Das setze ihn unter Druck, gesteht Lobinger. Aber andererseits sei er daran gewöhnt, unter Druck zu springen.

„Flüssigen Übergang ins Berufsleben schaffen“

Die Frage, ob er nach seiner sportlichen Karriere große Sprünge machen könne, ist damit weitgehend beantwortet. „Ich werde sofort einen flüssigen Übergang ins Berufsleben schaffen müssen“, sagt Lobinger. Statt für den Ruhestand hat er Kapital für die zwei Kinder, die er gemeinsam mit der ehemaligen Dreispringerin Petra Laux in Köln hat, zurückgelegt. Sie sollen einmal eine Ausbildung erhalten, wie sie ihm fehlt.

Tim Lobinger, der Mann der vielen Berufe, hat seine akademische Ausbildung vorzeitig beenden müssen, weil es sportlich so steil bergauf ging. „Weil ich das Glück hatte, verletzungsfrei durch die Saison zu kommen, hatte ich keine Zeit für Schwimmen und Basketball“, sagt Lobinger über seine Zeit an der Sporthochschule Köln. „Ich habe jede Menge Scheine, aber ich bin mit dem Grundstudium nicht fertig geworden.“ Nach dem Abitur in seiner Heimatstadt Bonn und Versuchen in Sport und Psychologie sowie in Betriebswirtschaft glaubte Lobinger in dem Studiengang Sport und Medien das Richtige gefunden zu haben. Doch mit Leistungssport ließ nicht einmal er sich verbinden.

Zur Bundeswehr, die mit ihren Sportfördergruppen Spitzensportlern ein Rundum-sorglos-Angebot zum professionellen Sporttreiben macht, hätte Lobinger nicht gepasst. „Wenn ich meinen Kindern versuche mitzugeben, dass sie ehrlich und direkt sein und sich nicht ein- und unterordnen sollen, dann zeigt das schon, dass für mich ein paar Jahre bei der Bundeswehr absolut nicht in Frage kamen“, sagt Lobinger. „Die einzige Chance, in Deutschland professionell Leichtathletik betreiben zu können, habe ich nicht wahrnehmen wollen.“

Durfte Klausur auch für WM-Start nicht nachschreiben

Lobinger bedauert, dass er keine Berufsausbildung hat. „Zeitlich wäre es möglich gewesen“, sagt er. „Aber damals galt noch, dass man bei 20 Prozent Fehlzeit durchgefallen ist. Ich durfte nicht mal eine Klausur nachschreiben, wenn ich sie verpasst hatte, weil ich bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft für Deutschland am Start war.“

Sonst nutzte Lobinger Ferien immer als Möglichkeit, mehr zu trainieren als sonst. Mit acht Jahren absolvierte er seinen ersten Wettkampf im Stabhochsprung und übersprang 2,01 Meter. Sechs Jahre später prognostizierte er seinem älteren Freund und Trainingspartner Jona Siebel, dass er sich von diesem nie mehr werde besiegen lassen. Das war 1986, und da war er sich schon sicher, dass Stabhochsprung sein Beruf werden würde.

Er begann, eigene Trainingspläne zu schreiben und zu „klugscheißern“, wie er sagt: zusätzlich am Sonntag zu trainieren, zwischendurch in den Kraftraum gehen, in der Schule fehlen. Bis zu elfmal pro Woche trainierte er mit siebzehn. In einem Gespräch über seine gefährdete Zulassung zum Abitur nahm sein Rektor den Leistungssportler beim Wort. Nicht mehr Präsenz verlangte er, sondern schulische Leistung. Der Athlet war herausgefordert und legte, ohne beim Training nachzulassen, bei den Prüfungen zu.

An der sechs Jahre älteren Schwester Babette – heute Sportwissenschaftlerin und Psychologin – hat Lobinger früh die Psychologie des Spitzensports studiert. „Sie war nicht so ein Killer, wie ich es bin“, sagt er. „Sie überlegte sich schon im Startblock, welche von ihren Freundinnen weinen würde, wenn sie sie gleich besiegte. Das sind Gedanken, die ich nie habe.“

Auch wenn er es ungern tut, muss Lobinger an den Abschied vom Sport denken – vielleicht nach den Olympischen Spielen 2012 in London, dann wird er 39 sein. „Ich möchte mich dann eigentlich von der Leichtathletik entfernen“, sagt er. „So leidenschaftlich und intensiv, wie ich Stabhochsprung lebe, sollte ich es dann hinter mir lassen.“

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend/Sonntag, dem 16./17. August 2008

Zur Person:

– Tim Lobinger wird am 3. September 1972 in Rheinbach geboren.

– Mit 14 Jahren überwindet er in seinem ersten Wettkampf als Stabhochspringer 3,46 Meter. In den neunziger Jahren wird er in das Nationalteam berufen und erringt anschließend zahlreiche Titel.

– 1997 überspringt er erstmals sechs Meter, ein Jahr später wird er Hallen-Europameister. In den Folgejahren erlebt er etliche Hochs und Tiefs. Lobinger wechselt häufig die Vereine, gilt als unbequemer Solist.

– In Peking erlebt Lobinger seine vierten Olympischen Spiele. Mit seiner Frau Petra hat er zwei Kinder. Das Paar ist seit 2002 getrennt. Lobinger lebt heute in München.

author: GRR

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