Blog
24
08
2008

Und er will auch, dass DLV-Athleten den Wahnsinn von der Vernunft unterscheiden. Aber er fürchtet, dass seine Leute darüber zu leicht ihre eigene Aufgabe vergessen.

Diskussionen in goldenen Hemden – Die deutschen Leichtathleten scheitern mit dem Anspruch, Moral und Medaillen gleichzeitig zu liefern – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

Sie waren wenigstens dabei, als die Jamaikaner tanzten. Allerdings sah die deutsche Sprintstaffel nachher doch etwas verloren aus in ihren goldenen Hemden, die bei diesen Spielen wirken, als hätte sich der Zeugwart bei der Trikotwahl vertan. Nichts war golden an der Leistung von Tobias Unger, Till Helmke, Alexander Kosenkow und Martin Keller. Fünfte waren sie geworden in 38,58 Sekunden nach einem Turnier, das von vielen Ausfälle geprägt war und von den wunderlichen Jamaikanern. In 37,10 Sekunden trugen sie den Staffelstab um die Bahn, was natürlich Weltrekord bedeutete.

Wieder rätselten die neutralen Beobachter, während die Deutschen sich mit ihren Achtungserfolgen anzufreunden versuchten. Die Zehnkämpfer André Niklaus und Michael Schrader mit den Rängen acht und zehn, die Stabhochspringer Danny Ecker und Raphael Holzdeppe mit ihren Plätzen sechs und acht. Und die
Staffel mit dem zweifelhaften Vergnügen, den Fahrtwind eines Weltrekordteams gespürt zu haben. ?

"Sensationell", fand Till Helmke das eigene Abschneiden, "total verrückt" das der Jamaikaner: "Deren Wechsel
sind noch nicht mal ausgereizt." So endete ein weiterer medaillenloser Tag für den Deutschen
Leichtathletik-Verband (DLV) bei den Spielen in Peking, und Chefbundestrainer Jürgen Mallow musste nun überlegen, wie sich das Geschehen in hübsche Worte kleiden ließ. Einmal Bronze haben seine Sportler bisher gewonnen, durch die Speerwerferin Christina Obergföll.

Viel mehr wird es nicht mehr, denn nur die Hochspringerin Ariane Friedrich hat noch eine Chance. Die Minusbilanz der Spiele von Athen von zwei Silber-Plaketten ist nicht mehr zu überbieten. Das sieht nicht gut aus, wenn man bedenkt, dass Mallow schon früher im Jahr beschwichtigte. Nach der Hallen-WM in Valencia, die der DLV ohne Medaille verließ. Nach dem Europacup in Annecy, als die Männer Vierte und die Frauen Letzte wurden:

Wartet ab, Hauptsache, bei Olympia kommt Erfolg.

Er ist nicht gekommen, das muss man so sagen, nachdem die vergangene WM in Osaka für den DLV fast schon eine Party war mit sieben Medaillen. Eine schöne Erinnerung, und Jürgen Mallow kommt auf sie zurück, als er an Franka Dietzsch denkt, die verletzte deutsche Weltmeisterin, die ihren wunden Körper noch ein bisschen mehr verflucht haben muss, als sie daheim in Neubrandenburg sah, wie billig in Peking Diskus-Gold zu haben war. Die 64,74 Meter der Amerikanerin Stephanie Brown-Trafton wären normalerweise unter ihrer Würde. "Das ist ganz klar", sagt Mallow, "wenn Franka Dietzsch hier gestartet wäre, hätten wir eine Olympiasiegerin."

Aber Franka Dietzsch ist hier nicht gestartet, was ein Zustand ist, an den man sich auf mittlere Frist gewöhnen muss. Denn Franka Dietzsch ist 40, und sie wird nicht jünger. Andere hätten einspringen müssen, aber wie das eben manchmal so ist in der Leichtathletik: ein Misserfolg folgt dem nächsten, ein Sog aus negativen Gedanken entsteht, und am Ende fehlen Kraft und Glück, sich aus der Bedrängnis zu befreien. Der WM-Zweite Robert Harting war gut in seinem Diskus-Wettkampf, aber die Konkurrenz schlug zurück, und er konnte nicht antworten.

Platz vier, hängender Kopf. Zuvor hatte die WM-Dritte im Kugelstoßen, Nadine Kleinert, mit Platz sieben gehadert, danach die Hammerwurf-Weltmeisterin Betty Heidler mit Rang neun. Beide wegen technischer Probleme, was immer so klingt als handle es sich bei den Damen um Autos mit Getriebeschaden. In Wirklichkeit haben sie Unreinheiten in ihren Bewegungsabläufen nicht beheben können – eine Empfehlung ist das nicht. Und der WM-Dritte Danny Ecker beklagte nach seinem Scheitern bei 5,75 Metern die jüngste Zwangspause wegen seiner wehen Achillessehne: "Ich hatte zu wenig Wettkampfsprünge. Man kann bei Olympia nicht anfangen nachzudenken, was man tut."

Mallow sagt: "Ich habe eine ganze Menge Positives gesehen." Und dann zählt er beachtliche Laufleistungen auf, den 20-jährigen Sportschüler Raul Spank, der im Hochsprung auf Platz fünf floppte, und die "abgeklärte
Qualifikation" des 18-jährigen Stabhochspringers Raphael Holzdeppe, für den das Finale am Freitag mit seinen 5,60 Meter eine gute Erfahrung war. Und Mallow hat recht: Die Mannschaft wirkt vitaler als jene vor vier Jahren,
sie zeigt mehr Perspektiven auf. Aber ihr hat in Peking auch jene Kraft gefehlt, die gute Tage zu besonderen Tagen macht. Vielleicht hat sie sich auch zu sehr einschüchtern lassen von jenen verqueren Charakteren, denen saubere Athleten ohnehin überlegen sind.

"Das ist auffällig", sagt Mallow, "es werden viele Verdächtigungen ausgesprochen, die wir nicht belegen können." Doping war im Vogelnest so gegenwärtig bei all den Rekorden und überraschenden Leistungssteigerungen, dass sich mancher unterlegene Deutsche in Rage redete, der Sprinter Tobias Unger etwa oder die Geherin Melanie Seeger. Verständlich. "Der Verdacht ist durchaus begründet", sagt Mallow, "die Konkurrenz dopt, das wissen wir."

Und er will auch, dass DLV-Athleten den Wahnsinn von der Vernunft unterscheiden. Aber er fürchtet, dass seine Leute darüber zu leicht ihre eigene Aufgabe vergessen. "Die Diskussion darüber lenkt natürlich ab", sagt
Mallow, "das ist absolut unprofessionell."

Und er lobt die Medaillengewinnerin Obergföll, die sich rechtzeitig zügelte, ehe sie den plötzlichen Aufstieg der Russin Maria Abakumowa zur Silbergewinnerin auf unlauteren Wettbewerb zurückführte. Sie ist vor drei Jahren in Helsinki schließlich ähnlich auf WM-Rang zwei geraten. "Da hat man auch gemunkelt, und deswegen mache ich das nicht", sagte Christina Obergföll.

Mallow fand das "hervorragend".

Das bleibt die Aufgabe der deutschen Leichtathleten für die WM 2009 in Berlin: Moralisch zu sein, aber den Mut zum Erfolg zu bewahren. So ganz hat das nicht geklappt in Peking.

Dafür war die Reise lehrreich für die Athleten in den goldenen Hemden.

Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Sonnabend, dem 23. August 2008

author: GRR

Comment
0

Leave a reply