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26
08
2008

Die deutschen Leichtathleten waren nie so richtig dabei, wenn es abging im Vogelnest.

Angriff ist die beste Selbstverteidigung – Nach dem Misserfolg der deutschen Leichtathleten attackiert die Verbandsspitze das Fördersystem – Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung

By GRR 0

Direkt hinter Ariane Friedrich sprangen die Kolleginnen. Ariane Friedrich drehte sich um und sah auf dem Bildschirm in der Interviewzone, wie sie ihre Höhen nahmen. „Irgendwo bin ich schon neidisch”, sagte sie, die nicht mehr mitmachen durfte da draußen im Pekinger Nationalstadion, weil sie dreimal 1,99 Meter gerissen hatte. Ariane Friedrich wirkte nicht besonders bedrückt nach dieser vergebenen
Medaillenchance.

Oder verbarg sich hinter ihrer Heiterkeit heimlicher Frust wegen Platz sieben mit 1,96? Eine Muskelverspannung am Gesäß ("hart wie ein Stein") machte sie verantwortlich für ihr Scheitern. Und jetzt? "Sie müssen verstehen", sagte Ariane Friedrich, "ich habe vier Jahre darauf hintrainiert, da ist die Enttäuschung schon groß."

Dann sprang hinter ihr auf dem Schirm Tia Hellebaut, die später höhengleich mit Kroatiens Weltmeisterin Blanka Vlasic (2,05 Meter) Olympiasiegerin werden sollte. Ariane Friedrich sah, wie die Belgierin die Latte überquerte. "Wow", sagte sie, "es geht ab hier."

Die deutschen Leichtathleten waren nie so richtig dabei, wenn es abging im Vogelnest. Am nächsten kam der Spitze noch Christina Obergföll, die im Speerwerfen die einzige Medaille für den Deutschen Leichtathletik-Verband gewann, eine bronzene. Präsident Clemens Prokop sprach von einem "unerfreulichen Rückschlag". Auf den ersten Blick sah die Bilanz schlechter aus als beim bisherigen Tiefpunkt 2004 in Athen, als es nur zwei Mal Silber gab, der Verband seine Leistungssportstruktur änderte und den Vereinen mehr
Verantwortung zubilligte.

Auf den zweiten Blick war sie besser, weil die meisten DLV-Athleten ihr Potential ausschöpften, und in der Nationenwertung Platz zehn statt elf heraussprang. Chefbundestrainer Jürgen Mallow nannte es ein "ganz, ganz kleines positives Bild". Aber auch er haderte, vor allem mit manch ablenkender Sponsorenaktion seiner Besten: "Wir haben den Athleten zu viele Freiheiten gegeben."

Mallow muss trotzdem weitermachen mit seiner Auswahl, denn nächstes Jahr ist die WM in Berlin, und auf dem Weg dorthin hat er erstmal etwas Frustabgelassen. Er warnte die Zuhörer bei seiner Bilanzpressekonferenz gleich, dass ich von meinem Recht auf freie Meinungsäußerung ausführlich Gebrauch machen werde", und begann mit einem Referat, das er als gezielten Angriff gegen alles angelegt hatte, was dem DLV und seinen Athleten das Leben schwer macht.

Jürgen Mallow, 63, ist ein ruhiger Mann, aber auch bissiger Verteidigerseiner Leute. Der DLV-Ehrenpräsident Helmut Digel soll Fähigkeit und Einstellung einzelner Sportler und Trainer kritisiert haben? Mallow schlägt
zurück und nennt Digel "unseren Ehrenpräsidenten, den ich jetzt durchaus öffentlich als Dummschwätzer bezeichne". ZDF-Dokumentationen weisen die Trainer Klaus Schneider und Klaus Baarck als aktive Stützen des
DDR-Dopingsystems aus? Mallow ruft: "Für mich sind die Grenzen der Heuchelei weit überschritten." Kommissionen des deutschen Sports hätten die Männer vor Jahren für unbedenklich erklärt.

Das ist nicht gerade ein Florett, mit dem er da ficht. Und in der Frage der mutmaßlichen Dopingtrainer scheint er die Frage zu vergessen, ob dieTrainer nicht seit Jahren lügen wegen ihrer Dopingvergangenheit. Aber er
und Eike Emrich, der DLV-Vizepräsident Leistungssport, haben ja noch ein anderes Problem: Sie wollen ein Nationalteam aufbauen, das im professioneller werdenden Weltsport Leichtathletik mithält. Dazu brauchen
sie Ideen und Geld. Ideen haben sie, am Geld hapert es, auch an der rechtzeitigen Bereitstellung von Geld.

Und deshalb wurde Mallows Tirade bald zur Grundsatzkritik an der deutschen Sportbürokratie mit unnötigem
Papierkram und allzu knapper Förderung. "Wenn die unzureichenden Fortschritte umgesetzt werden, werden wir für nächstes Jahr fünf Millionen haben", sagte Mallow, gebraucht werde mindestens das Doppelte. Emrich
sprach von "Gängelung" und "Bevormundung": "So ist langfristige Planung und Vorbereitung nicht möglich." Und Anschluss zu halten an die gut bezahlte Konkurrenz, erst recht nicht.

Seitdem Emrich und Mallow 2004 ihre Posten bezogen haben, haben sie sich auf die Lippen gebissen, um die Verhandlungspositionen des DLV gegenüber seinen Geldgebern Bundesinnenministerium (BMI) und Deutscher Olympischer Sportbund (DOSB) nicht zu schwächen. 630 000 Euro hat das schlechte Abschneiden von Olympia 2004 ihre Abteilung gekostet, weil das deutsche Sportfördersystem damals noch die Schlechten mit Kürzungen bestrafte, statt zu investieren, um sie besser zu machen. Mittlerweile hat der DOSB sein Fördersystem reformiert, er verteilt sein Geld jetzt gezielter. Aber den Leichtathletik-Planern geht die Umsetzung zu starr und langsam vonstatten.
Gleichzeitig werden sie an Medaillen gemessen. "Irgendwann", sagt Mallow, "ist der Geduldsfaden gerissen."

Der DOSB reagiert beschwichtigend. Mehr Geld werde kommen, Leistungssportdirektor Bernhard Schwank sagt: "Die Steigerung wird erheblich sein, das weiß Herr Mallow auch." Und ein BMI-Vertreter hat Prokop noch in Peking zu einer Unterredung gebeten, die Prokop ein "konstruktives Gespräch" nennt. Aber der Eklat ist da. Er sagt nichts Gutes über den deutschen Sportstaat, wobei Mallow selbst weiß, welchen Verdacht er weckt mit seinem Ausbruch. Will er von seiner Ein-Bronze-Bilanz ablenken?

Mallow sagt, er hätte auch im Erfolgsfall geschimpft. Fast klingt er dankbar, dass Olympia 2008 für ihn nicht endete wie die WM 2005 (fünf Medaillen) und die WM 2007 (sieben). Misserfolg macht die Not anschaulich,
Jürgen Mallow schöpft ein bisschen Hoffnung. "Vielleicht müssen wir erst ganz tief unten sein", sagt er.

Dort ist seine Mannschaft fast angekommen.

Thomas Hahn in der Süddeutschen Zeitung, Montag, dem 25. August 2008

author: GRR

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