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2008

Was mit entsprechendem finanziellen Einsatz in der Leichtathletik möglich wäre, hätten vor allem die Briten gezeigt, die einmal Gold, zweimal Silber und einmal Bronze gewonnen haben

Zahnlose Tiger – 53 Athleten – eine Bronzemedaille. Die schlechteste Medaillenbilanz eines deutschen Teams bei Olympischen Spielen seit 1904 wirft viele Fragen auf. Einige (vermeintliche) Antworten lieferte die sportliche Führung noch vor dem offiziellen Schluss in Peking. Christian Ermert in leichtathletik vom 29. August 2008

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Noch bevor feststand, dass Deutschlands Leichtathleten mit nur einer Bronzemedaille durch Speerwerferin Christina Obergföll in Sachen Edelmetall das Olympia-Ergebnis von Athen vor vier Jahren (zweimal Silber) noch unterbieten und die schlechteste Medaillenbilanz seit 104 Jahren abliefern würden, platzte DLV-Cheftrainer Jürgen Mallow der Kragen.

Die deutschen Athleten? „Zahnlose Tiger“ – mangels ausreichender Unterstützung. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und das Bundesinnenministerium? „Arrogant und hochnäsig. Die wollen Medaillen und tun dafür nichts.“ DLV-Ehrenpräsident Professor Helmut Digel? „Ein Dummschwätzer.“

Am Samstagnachmittag hatte Mallow zur Pressekonferenz in Peking gebeten – da hatte Ariane Friedrich noch die Chance auf eine Medaille und die 4×400-Meter-Staffel der Frauen auf eine bessere Platzierung als Rang acht. Dennoch kritisierte er in ungewohnter Schärfe die in seinen Augen unzureichende Förderung der deutschen Spitzen-Leichtathleten durch DOSB und Bundesinnenministerium, die das Geld an die einzelnen Fachverbände verteilen.

Sarkasmus > Während der Olympischen Spiele habe es keine Gespräche über die weitere finanzielle Förderung der Leichtathletik gegeben. „Der zuständige Koordinator hat uns wohl nicht gefunden“, sagte Mallow sarkastisch. Dabei habe Peking mit dem am jeden Tag ausverkauften Vogelnest, dem gewaltigen Medieninteresse in aller Welt und auch in Deutschland gezeigt, dass die Leichtathletik nach wie vor die Kernsportart bei Olympia ist.

Was mit entsprechendem finanziellen Einsatz in der Leichtathletik möglich wäre, hätten vor allem die Briten gezeigt, die einmal Gold, zweimal Silber und einmal Bronze gewonnen haben. „Was die für ihre Medaillen investieren, ist sensationell. Und von dem, was in Russland für Prämien und hauptamtliche Trainer ausgegeben wird, können wir nur träumen. Für uns ist derzeit jeder Finalplatz ein Erfolg. Wenn wir das Doppelte von dem bekämen, was wir in diesem Jahr haben, wären wir am unteren Rand, aber immer noch nicht da, wo Großbritannien ist“, sagte Mallow.

Dem DLV stehen fünf Millionen Euro für die Förderung des Hochleistungssports zur Verfügung. Wer unter diesen Voraussetzungen ohne deutlich verstärkte finanzielle Förderung der Leichtathletik von Erfolgen wie in den 80er- oder 90er-Jahren träume, sei naiv: „Die glorreichen Zeiten einer Heike Drechsler wollen wir nicht haben. Das war Doping, das war Kalter Krieg.“

Unterstützung erhält er von DLV-Vizepräsident Professor Eike Emrich: „Die Öffentlichkeit meint immer, in den Sport werden Millionen und Abermillionen investiert, aber tatsächlich ist die materielle Förderung schlicht unzureichend. Dann muss man auch öffentlich akzeptieren, wenn kein besseres Ergebnis erzielt wird.“
Allerdings erklärt all das nicht, warum so wenige deutsche Athleten in Peking die bestmögliche Leistung brachten. Der DLV hat oft genug betont, dass dies der wichtigste Maßstab sei und nicht die Zahl der Medaillen.

Mit Hochspringer Raul Spank, 10.000-Meter-Läuferin Sabrina Mockenhaupt, Hindernis-Neuling Antje Möldner und Stab-Artistin Carolin Hingst steigerten sich nur vier Einzelstarter bei Olympia im Vergleich zu ihren früher in der Saison erzielten Marken. Dazu kamen beide Frauen-Staffeln, die mit Saisonbestleistungen die Finals erreichten. Ein bisschen mehr hätte es unter den 37 Athleten und Athletinnen und vier Staffeln schon sein können.
Dietzsch fehlte > Jürgen Mallow attestierte Zweidrittel der Mannschaft ein „positives Ergebnis“ und verwies darauf, dass nur neun Athleten und eine Staffel in der ersten Runde scheiterten. Eine entscheidende Rolle für die maue Medaillenausbeute spielten für Jürgen Mallow zwei Ausfälle. „Franka Dietzsch ist nicht zu ersetzen“, sagte er zur Diskus-Weltmeisterin vom SC Neubrandenburg. „Wenn sie Gold gewonnen hätte, hätte in Peking mehr Glanz über der Leichtathletik gestrahlt. Das hätte vielleicht auch abgefärbt auf die Stimmung oder die Einstellung des einen oder anderen.“

Vermisst wurde auch die Wattenscheiderin Irina Mikitenko als die aussichtsreichste Läuferin im Marathon. „Ihr hätte man ein erfolgreiches Abschneiden zutrauen können. Somit haben wir zwei mögliche Medaillen im Vorfeld zu Hause gelassen.“

Eike Emrich gibt Deutschlands Leichtathleten eine Zwei bis Drei. Die Redaktion von leichtathletik ist kritischer: Nach unserem Zeugnis auf den Seiten 12 bis 15 kommt eine glatte Drei als Durchschnittsnote heraus.
Die Kritik von DLV-Ehrenpräsident Helmut Digel, die Deutschen kümmerten sich zu wenig um Leistungsdiagnostik und hätten keine guten Trainer, wies Mallow scharf zurück: „Der Ehrenpräsident ist ein Dummschwätzer. Wie kann er behaupten, dass wir schlechte Trainer haben, wenn beispielsweise ein Michael Deyhle aus Betty Heidler die Weltmeisterin 2007 gemacht hat?“, fragt er. Digel habe auch „keine Ahnung, wie viel Leistungsdiagnostik wir machen“. Die Methoden, mit denen Deutschlands Werfer auf diesem Gebiet arbeiten, gehörten zu den modernsten weltweit.

Digel hatte bereits zur Halbzeit der Leichtathletik-Wettbewerbe in Peking davon gesprochen, dass das bis dahin medaillenlose Abschneiden „in der öffentlichen Wahrnehmung als nationale Katastrophe“ angesehen würde.

Jürgen Mallow kritisierte auch einige der deutschen Athleten für ihre Auftritte in Peking. Auch Hammerwurf-Weltmeisterin Betty Heidler war für Mallow eine große Enttäuschung: „Sie ist auf diesem hohem Niveau nicht wettkampfstabil.“ Sich selbst und der Mannschaftsführung warf er vor, den Athleten während der Olympiasaison zu große Freiheiten gelassen zu haben. „Zu viele verwechseln Professionalität mit Profit und verschwenden Energie bei Sponsorenterminen in den USA oder auf der chinesischen Mauer.“

Nicht auf andere schauen > Kugelstoßerin Nadine Kleinert habe mit Platz sieben und 19,01 Metern den schlechtesten Wettkampf der Saison gezeigt. „Das kann ich nicht verstehen, vielleicht lassen sich einige Athleten zu sehr davon beeinflussen, wenn Konkurrenten im Wettkampf sind, die schon einmal wegen Dopings gesperrt waren oder ihnen verdächtig vorkommen. Ich kann ihnen nur raten, sich auf das Ausschöpfen ihres eigenen Leistungspotenzials zu konzentrieren“, richtete Mallow einen Appell, an die zahlreichen deutschen Athleten, die in Peking der Konkurrenz unlautere Methoden unterstellten.

Indes: Zweifel an den Leistungen der Sieger bis hin zum Generalverdacht waren in Peking allgegenwärtig. Die Situation fasste Eike Emrich so zusammen: „Wenn sich analog zu früheren Olympischen Spielen in einigen Jahren oder Monaten durch Enthüllungen herausstellen sollte, dass das ein Produkt niederer Qualität, nämlich dopingbelastet und nicht regelgetreu war, wird das enorme Folgen für die Reputation der Olympischen Spiele haben. Dann ist in der Spitze der schmale Grat zum Zirkus überschritten.“ Er brachte auch ein gewisses Verständnis auf für deutsche Athleten, die ihre Zweifel an der Sauberkeit der Konkurrenz äußerten. „Der saubere Sportler ist zwar moralisch überlegen, aber faktisch der Dumme.“

Mallow betonte außerdem, Kugelstoßerin Nadine Kleinert und Diskuswerfer Robert Harting seien in Peking nicht unbeeinflusst von den vom ZDF erhobenen Dopingvorwürfen aus DDR-Zeiten gegen ihre Trainer Klaus Schneider und Werner Goldmann gewesen. „Das aus der Mottenkiste zu holen, überschreitet die Grenze zur Heuchelei“, ereiferte sich Jürgen Mallow.

Neun Medaillen in Berlin > In seiner einstündigen Rede gab Mallow auch schon eine Prognose für die Weltmeisterschaften 2009 ab, bei der er aber offen ließ, wie viel Ironie in ihr steckte. „Wir haben 2005 fünf Medaillen gemacht, wir hatten 2007 sieben und wir machen 2009 neun. Es steckt Ironie in dieser Prognose. Ich bin kein abergläubischer Mensch, aber ich formuliere Aberglauben.“

Das Bundesinnenministerium reagierte auf Mallows Ausbruch prompt. Noch während der Pressekonferenz bat ein Vertreter des Ministeriums um ein Gespräch mit DLV-Präsident Clemens Prokop. Der war zunächst um Schadensbegrenzung bemüht. „Ich bedauere die Art und Weise der Äußerungen und missbillige sie. Das ist nicht produktiv“, sagte der Jurist aus dem bayerischen Kelheim gegenüber der Deutschen Presse-Agentur. Auch beim DOSB lösten Mallows Tiraden Unmut aus. „Ich finde die Anschuldigungen unverständlich. Es zeigt ein erstaunliches Maß an Unkenntnis über das Fördersystem“, konterte Chef de Mission und DOSB-Generaldirektor Michael Vesper und mutmaßte: „Er neigt dazu, die Schuld bei anderen zu suchen.“

Dennoch kündigte der DOSB an, die Förderung der Leichtathleten werde gesteigert. Mal sehen, ob sich bis zur WM 2009 in Berlin die Situation verbessert. Denn es ist ja nicht so, als wäre Olympia der Tiefpunkt des Jahres gewesen. Bei den medaillenlosen Hallen-Weltmeisterschaften in Valencia und beim Europacup in Annecy waren Deutschlands Leichtathleten viel schlechter als in Peking.

So gesehen hat der Aufwärtstrend schon begonnen…

Christian Ermert in leichtathletik vom 29. August 2008, Nr. 35

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