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19
10
2008

Für Freizeitsportler ist das in sofern wichtig, als sie sich häufig überfordern. Gerade wenn sie die Kommunikation mit dem Körper vernachlässigen, können sich Hobbysportler in langfristige Beschwerden hineintrainieren. Im Freizeitbereich werden heute Umfänge trainiert, wie sie vor 25 Jahren nur Hochleistungssportler bewältigt haben.

Sportpsychologe Jens Kleinert – „Psychische Effekte sind wirkungsvoller als Medikamente“ – Michael Reinsch im Interview in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Jens Kleinert ist diplomierter Sportwissenschaftler sowie promovierter Mediziner und habilitiert in Sportpsychologie. An der Deutschen Sporthochschule Köln leitet er seit zwei Jahren das Psychologische Institut. Im Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung spricht Kleinert über Leistungen und Verletzungen, die aus dem Kopf kommen.

Ein alte Fußballweisheit besagt: Stürmer sollen nicht denken. Ist ein Torschütze umso erfolgreicher, je weniger er im Kopf hat?

Das ist vollkommen falsch. Trainer nehmen denjenigen, der danebenschießt, zwar oft als jemanden wahr, der falsch denkt. Aber der Trainer hört ja nicht die positiven Beispiele, wenn sich beispielsweise der Stürmer vorgenommen hatte, links oben ins Eck zu schießen, und tatsächlich getroffen hat. Geschildert werden, als Erklärung für einen Misserfolg, nur die negativen Gedankenabläufe.
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Wann ist ein Gedanke falsch?

Wenn der Stürmer bei einem Elfmeter das Bild vor Augen hat: Ich schieße daneben. Und wenn er die negativen Konsequenzen fürchtet. Das ist dann mit Ängsten und mit muskulärer Verspannung verbunden. Das stört seine Koordination. Ein Bild des Versagens im Kopf, vielleicht sogar ein ganz spezielles vom letzten Fehlschuss, ist oft der Grund für ein erneutes Versagen: eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Dennoch: Der denkende Stürmer ist nicht falsch. Er muss nur das Richtige denken.

Gibt es Momente, in denen Intuition besser ist als Bewusstsein?

Wer beginnt, über Automatismen nachzudenken, stört den automatischen Prozess. Ein Skifahrer, der bei einem Slalom darüber nachdächte, warum er wie kantet, würde nicht das dritte Tor erreichen. Das heißt aber nicht, dass er nicht denkt. Die Devise „Denk nicht, tu einfach“ ist falsch. Sie ist nur deshalb verbreitet, weil mit Gedanken Fehler assoziiert werden. Die Kunst besteht darin, das Richtige zu denken. Das ist psychologisches Training.

Welcher Stürmer denkt?

Von Klose bis Kuranyi denken alle guten Stürmer viel. Wie reflektiert sie sind, zeigen ihre Interviews. Ein Spieler tut gut daran, ein hohes Maß an Selbstreflexion zu haben. Wir arbeiten mit vierzehn-, fünfzehnjährigen Talenten. Für uns sind sie Experten, denn sie haben schon zehn Jahre Erfahrung mit Motivation, mit dem Umgang mit Ängsten, mit Stress. Wir helfen ihnen, ihre Fähigkeiten zu erkennen, in die richtigen Bahnen zu lenken und ein Stück weit zu optimieren.

Ist es Arroganz, wenn man Podolski unterstellt, bei ihm entspringe der Erfolg seiner Sorglosigkeit?

Er reflektiert womöglich anders als Kuranyi, aber er reflektiert. Von mir aus hat er auch eine gesunde Naivität. Er sagt ja: Darüber mache ich mir keine Gedanken. Damit ist er auf der Meta-Ebene. Zu reflektieren, dass man nicht denkt – das muss man auch erst mal erreichen.

Gibt es so etwas wie fußballerische oder Spielintelligenz? Und was hat sie mit unserer Intelligenz zu tun?

Wir haben mindestens sieben Formen der Intelligenz. Kreativität und Flexibilität fallen darunter. Soziale Intelligenz ist eine andere. Dazu kommen kognitive Fähigkeiten. Der eine Spieler versteht es, die Mannschaft zusammenzubringen, indem er die Stimmung aufnimmt und sieht, ob seine Mitspieler einen Pass brauchen oder gerade nicht angespielt werden können. Ein anderer kann das Spiel lesen. Er versteht, welcher Pass im Moment welche Möglichkeit eröffnen würde. Der schöpferische Typ schafft etwas ganz Überraschendes. Das alles hat mit der Intelligenz, die in einem geistreichen Gespräch auftritt, erst einmal gar nichts zu tun.

Sie arbeiten über die Wechselwirkung zwischen Haltung und Verletzung. Können Sie bei einem Training erkennen, wer sich als Nächster verletzt?

Man kann das nicht sehen. Sonst wäre die Sache viel zu einfach. Meist geht es ja um die innere Haltung.

Sie bestätigen doch wissenschaftlich, was Trainer und Spieler sagen: dass man mit breiter Brust ins Spiel gehen solle. Das beeindrucke den Gegner und schütze Beine und Bänder . . .

Dahinter steckt ein tiefes und uraltes Verständnis davon, wie psychische und physiologische Dinge miteinander korrespondieren. Bei Angst verspannt sich die Muskulatur, beispielsweise am Rücken. Oder wenn man erschreckt, reagiert das Auge, die Hormonausschüttung verändert sich. Was wir wahrnehmen, was wir denken ist ständig mit dem verbunden, was unser Körper tut. Davon kriegen wir normalerweise nichts mit, ob wir hier sitzen und miteinander sprechen oder im Wettkampf hoch angespannt sind. Denn diese Vorgänge sind psychovegetativ gesteuert, manchmal hormonell, manchmal nerval. Diese Zusammenhänge, die seit Jahrzehnten bekannt sind, versucht sich die Sportpsychologie zunutze zu machen, in dem sie psychische und körperliche Prozesse koppelt.

Können Sie Unfälle und Verletzungen vermeiden?

Die wissenschaftliche Überprüfbarkeit von Effekten der Sportpsychologie ist im Spitzensport schwierig. Wenn der Sportpsychologe neben Arzt oder Konditionstrainer einer von vielen Betreuern ist, sind die Kausalmechanismen – wer und was ist für den Erfolg verantwortlich? – nicht nachvollziehbar. Dem kann man nur auf die Spur kommen, wenn man Forschung betreibt. Erkennen und belegen lässt sich: gute Stimmung und richtige Aktivierung gleich gute Koordination. Der nächste Schritt ist, dies in Trainingsverfahren umzusetzen.

Sind Sie gescheitert, wenn sich ein Spieler verletzt?

Nein. Vielleicht fünf bis zehn Prozent der Verletzungen lassen sich gut durch psychologische Faktoren erklären – beteiligt sind die psychologischen Prozesse vermutlich bei viel mehr Verletzungen. Verletzungen gehören allerdings zu einem Athletenleben dazu. Wir müssen dem Spieler deutlich machen: In dem Moment, in dem er nicht Fußball spielen kann, muss er zeigen, dass er ein guter Profi ist. Wer nach Rückschlägen, körperlicher oder psychischer Art, nicht wieder Tritt findet, macht eine schlechte Karriere. Wer es schafft, eine Verletzung auch psychisch gut zu bewältigen, wird langfristige eine gute machen.

Dafür lassen sich Techniken lernen, beispielsweise Ziele richtig zu stecken, oder auch Techniken, die helfen, gut zu schlafen. Regeneration ist so wichtig wie Training. Ich bin überzeugt, dass in Zukunft die meisten Vereine im professionellen Bereich mit einem Sportpsychologen kooperieren werden, von der Zusammenarbeit ad hoc bis zum Platz auf der Bank. Allein wenn man den finanziellen Schaden einer Verletzung betrachtet, rechnet sich ein Sportpsychologe.

Ein Psychologe kann fünf bis zehn Prozent der Verletzungen verhindern?

Das ist zu einfach gedacht. Es gibt für jede Verletzung ein Bündel von Gründen. Von denen sind fünf bis zehn Prozent psychosozial. Wenn ich morgens aufstehe und mich nicht wohl fühle, könnte ich in der Folge zaghaft statt selbstbewusst in einen Zweikampf gehen – und mich verletzen. Entscheidend ist, dass ein Spieler nicht nur körperlich gut drauf ist, sondern sich auch gut drauf fühlt. Ein Spieler muss realisieren: Ich bin müde, ich muss mich zurückhalten. Wer müde ist, verändert sein Bewegungsverhalten. Er geht nicht mehr routiniert in die Zweikämpfe – und ist damit fehler- und verletzungsanfällig.

Psychisch spricht man von einer Zone des optimalen Funktionierens. Es gibt Techniken, sich in diese Zone zu heben. Ein Bobfahrer, der sich vor dem Start auf die Muskeln schlägt, versucht das. Aber auch, zu selbstsicher zu sein, ist ein Verletzungsrisiko, etwa weil man sich nicht richtig warm macht.

Der Normalbürger nimmt einen Espresso, wenn er nicht ganz fit ist, oder er greift zu anderen Mitteln.

Innere Bilder, kleine Gesten, sich abzuklatschen im Team, das alles kann sehr wirkungsvoll sein. So etwas kann den Körper genauso stark aktivieren wie ein Medikament. Wie stark psychische Effekte sind, merken Sie, wenn Sie als Anfänger auf eine fünfzig Meter hohe Bungee-Plattform fahren. Sie kommen oben mit Puls 160 an, obwohl Sie sich kein bisschen bewegt haben. Wer dafür Techniken hat, braucht keine Pharmaka. Von denen kommt er womöglich auch nicht mehr runter, wenn er einen kühlen Kopf braucht. Unabhängig davon, dass sie verboten sind.

Was lernen wir aus all dem für eine alternde Gesellschaft, in der Sport Alltagskultur ist?

Ganz abstrakt: Es gibt einen Zusammenhang von Gedanken und körperlichen Vorgängen. Man kannte schon vor der Sportpsychologie den Begriff des mental healing. In der Krebstherapie wurde vor dreißig Jahren beobachtet, dass hormonelle Vorgänge durch Gedanken beeinflusst werden. Es ist auch bekannt, dass etwa bei einem Redner unter Stress sich Immunzellen verändern. Es beeinflusst die körperliche Entwicklung eines Kranken, ob er sich gut aufgehoben fühlt bei seinem Arzt.

Für Freizeitsportler ist das in sofern wichtig, als sie sich häufig überfordern. Gerade wenn sie die Kommunikation mit dem Körper vernachlässigen, können sich Hobbysportler in langfristige Beschwerden hineintrainieren. Im Freizeitbereich werden heute Umfänge trainiert, wie sie vor 25 Jahren nur Hochleistungssportler bewältigt haben. Wir haben eine hohe Versportlichung der Gesellschaft, aber das Gefühl für den Körper ist nicht mitgegangen. Man sollte lernen hinzuhören, ob man nicht einmal den Trainingslauf ausfallen lassen und gleich in die Sauna gehen sollte. Ein Körpergefühl zu entwickeln ist ganz wichtig für ein lebenslanges gesundes Sporttreiben.

Haben Sie dafür Techniken parat?

Wir haben Checklisten entwickelt, die helfen, in zwei Minuten herauszufinden: Wie geht es mir eigentlich? Eine Hilfe zur Selbstreflexion. Man beantwortet anhand einer Adjektivliste die Frage: Fühle ich mich kräftig? Beweglich? Daraus muss ich Konsequenzen ziehen. Fühle ich mich inaktiv, sollte ich mich aktivieren? Oder fühle ich mich verspannt und sollte etwas zur Entspannung tun?

Das ist genau das Gegenteil der Idee, den inneren Schweinehund zu bekämpfen.

Ein fürchterliches Bild: nicht nur abgedroschen, sondern auch völlig falsch! Motivation zum Sport wird so als etwas dargestellt, das schwerfällt, zu dem man sich überwinden muss. Das kann völlig falsch sein. Der Schweinehund hat nichts mit Körpergefühl zu tun.

Wenn die psychischen von den körperlichen Vorgängen entkoppelt werden, wird es gefährlich.

Die Fragen stellte Michael Reinsch. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Donnerstag, dem 16. Oktober 2008

author: GRR

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