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03
09
2009

Gut in geringen, giftig in großen Mengen – so lautet stark vereinfacht das Grundgesetz der Hormesis. Für Calabrese ist Hormesis ein wesentliches Naturphänomen, das uns helfen kann, länger und gesünder zu leben.

Kolumne: Dr. Hartmut WEWETZER – Gutes Gift – Unser Gesundheitsexperte vom Tagesspiegel fahndet nach guten Nachrichten in der Medizin. Heute: Warum Stress nützlich sein kann.

By GRR 0

Beim Gift kommt es auf die Dosis an. So lautet die Grundregel der Toxikologie, der Wissenschaft von den Giften. Edward Calabrese, 62, geht noch weiter. Der Toxikologe von der Universität von Massachusetts in Amherst sagt: Ein bisschen Gift kann nützlich sein. Es stresst den Organismus, aber stimuliert ihn auch, weckt ihn gewissermaßen auf.

Schädlich ist oft nur die hohe Dosis. „Hormesis“ lautet diese Theorie, abgeleitet aus dem griechischen Wort für „Anregung“ oder „Reiz“. Sie geht auf den Greifswalder Arzneiforscher Hugo Schulz zurück. Der entdeckte in den 1880er Jahren, dass Hefepilze durch ein Desinfektionsmittel in niedriger Konzentration nicht etwa abgetötet, sondern im Wachstum sogar stimuliert werden. Erst höhere Dosen des Mittels dezimierten die Pilze.

Gut in geringen, giftig in großen Mengen – so lautet stark vereinfacht das Grundgesetz der Hormesis. Für Calabrese ist Hormesis ein wesentliches Naturphänomen, das uns helfen kann, länger und gesünder zu leben.

Es gründet seiner Ansicht nach darin, dass der Körper auf die potenzielle Gefahr mit der Bildung von Stoffen reagiert, die ihn verteidigen oder reparieren. Die Leibgarde wird alarmiert. Vertraut ist das Prinzip von der Impfung, bei der eine kleine Dosis eines Krankheitserregers das Immunsystem stimuliert. Aber Calabrese geht viel weiter. Vitamin A und B6, Eisen, Zink und Selen sind für ihn Beispiele dafür, dass selbst lebenswichtige Substanzen in hoher Dosis schädlich werden.

Auch der Nutzen von Obst und Gemüse hat mit Hormesis zu tun. Es sei nicht der Effekt der pflanzlichen Antioxidantien auf die freien Radikalen, gefährliche Stoffwechselprodukte, die das Grünzeug so gesund mache. Sondern die Tatsache, dass die Antioxidantien zu einer Gruppe von Stoffen zählen, mit denen die Pflanze sich gegen Fressfeinde verteidigt. Es sind natürliche Pestizide, und die lösen in unserem Körper „gesunden Stress“ aus. Auch Sport und „gezieltes“ Hungern seien segensreich, weil sie hormetische Effekte hervorriefen.

So weit, so gut. Aber hier macht der streitbare Wissenschaftler noch lange nicht halt. Selbst bestimmte krebserregende Umweltchemikalien, Arsen, chemische Pestizide, Kadmium und – man höre und staune – radioaktive Strahlung hätten in niedriger Dosierung gewisse günstige Effekte, sagt er.

Doch Calabrese ist kein Verharmloser. Und natürlich fordert der Forscher nicht dazu auf, sich jeden Morgen zum Frühstück eine Messerspitze Schwermetall zu gönnen oder Urlaub im Endlager zu machen. Aber die simple Trennung von Gut und Böse, von gesund und giftig existiert in der Natur ganz offenbar nicht immer. Calabreses Fachkollegen halten trotzdem lieber an ihrem Schwarz-weißWeltbild fest. Sie haben zwei Denkmodelle. Entweder hat ein Gift einen bestimmten Schwellenwert, ab dem es als schädlich gilt.

Ist der Stoff dagegen krebserregend, gibt es keinen Schwellenwert, sondern das Risiko steigt bereits unterhalb jeder Schwelle mit der Dosis an. Es wird Zeit, dass Calabrese seinen Kollegen etwas Stress macht.

Dr. Hartmut Wewetzer leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegels.  Sonntag, dem 26. Juli 2009

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