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17
11
2010

Das Projekt ergänzt interdisziplinäre Forschungen zur menschlichen Bewegung.

Vom Original kaum zu unterscheiden – Forscher wollen den Bewegungsablauf des Menschen entschlüsseln, um Kranke besser heilen zu können – Sybille Nitsche im Tagesspiegel

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In Deutschland leben laut Schätzungen 300 000 Beinamputierte, etwa 100 000 von ihnen sind am Oberschenkel amputiert. Ist eine Prothese nicht optimal auf den Patienten eingestellt oder weist Mängel in der Konstruktion und im Aufbau auf, kann das zu Folgeschäden führen wie Arthrose, Osteoporose und Rückenschmerzen. Besonders dramatisch ist es, wenn durch eine schlechte Prothese auch das gesunde Bein in Mitleidenschaft gezogen wird und die Gelenke krankhafte Veränderungen zeigen.

„In der gegenwärtigen Praxis ist der Patient auf das Wissen und die Erfahrungen des Orthopädie-Technikers angewiesen, der oft nur per Augenschein das Gangbild des Beinamputierten beurteilen kann und gegebenenfalls Veränderungen an der Prothese vornimmt“, sagt Marc Kraft, Leiter des Fachgebietes Medizintechnik an der TU Berlin. Für eine optimale Versorgung des Oberschenkelamputierten wäre es aber notwendig, dass der Orthopädie-Techniker auch Daten zu Gelenkkräften, Drehmomenten, Gelenkwinkeln und Beschleunigungen von Prothese-Segmenten in seine Entscheidungen einbeziehen kann.

Vor diesem Hintergrund haben Wissenschaftler der TU Berlin und der Orthopädischen Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover zusammen mit dem Unternehmen Otto Bock HealthCare ein Forschungsprojekt auf den Weg gebracht, das vom Bundesforschungsministerium mit dem „Innovationspreis Medizintechnik 2010“ ausgezeichnet wurde und mit 1,2 Millionen Euro drei Jahre lang gefördert wird.

„Unser Ziel ist es, eine Messtechnik zu entwickeln, die in die Prothese integriert wird, damit die Bewegungsdaten des Patienten nicht nur unter Laborbedingungen, sondern in alltäglichen Situationen und im Sanitätshaus, bei der Versorgung des Patienten, gemessen werden können“, beschreibt der TU-Professor Marc Kraft, der das Vorhaben leitet. Aus den gewonnenen Daten wollen die Wissenschaftler Kriterien für den Bewegungsablauf mit einer Prothese ableiten, um sie optimal konstruieren zu können. Ein unphysiologisches Gangbild und daraus folgende gesundheitliche Schäden, so hoffen die Wissenschaftler, werden so vermieden.

Die TU Berlin und die Firma Otto Bock haben bereits gemeinsam ein Messsystem entwickelt, das die innerhalb der Prothese wirkenden Kräfte misst. Was fehlt, sind Daten zu Drehbewegungen, Beschleunigungen oder Neigungen von Prothese-Segmenten. Deshalb soll das Messsystem um sogenannte Inertialsensoren erweitert werden, die genau diese Bewegungsdaten erfassen. Die Analyse dieser Daten mit einer Software, die ebenfalls innerhalb des Forschungsprojektes entwickelt wird, erlaubt dann Rückschlüsse auf den statischen Aufbau einer Prothese und ihrer dynamischen Eigenschaften. Denn eine Beinprothese soll in der Standphase stabiles Stehen, in der Schwungphase eine hohe Mobilität ermöglichen.

Der wissenschaftliche Anspruch des Projektes liege vor allem darin, Parameter für einen biomechanisch optimalen Bewegungsablauf zu definieren, der dem Gang eines gesunden Menschen so nah wie möglich kommt, sagt Kraft. „Das heißt, wir werden erstmalig ein grundlegendes Bewegungsmodell für Oberschenkelamputierte entwerfen zur Verbesserung der Prothese.“

Das Projekt ergänzt interdisziplinäre Forschungen zur menschlichen Bewegung. Ein Team von Ingenieuren, Mathematikern, Physikern, Neurologen, Psychologen, Sportwissenschaftlern, Biomechanikern und Informatikern der TU Berlin, der Humboldt-Universität Berlin, der Charité und außeruniversitärer Forschungseinrichtungen will die menschliche Bewegung in ihrer ganzen Komplexität ergründen. Dazu gehört, grundlegend zu verstehen, wie Bewegung entsteht, gelernt, reguliert und gesteuert wird. Ein solches menschliches Bewegungsmodell soll dazu beitragen, neue Techniken und Heilverfahren für Menschen zu entwickeln, die aufgrund eines Unfalls Bewegungsabläufe neu erlernen müssen.

„Robotersysteme, die heute für die Rehabilitation von Schlaganfallpatienten zum Einsatz kommen, basieren weitgehend auf empirischem und heuristischem Wissen“, erklärt Jörg Krüger, Professor für Industrielle Automatisierungstechnik an der TU Berlin. „Und wir erzielen mit ihnen durchaus positive Effekte. So kann der Patient zum Beispiel nach einem halben Jahr Training eine Treppe wieder allein steigen. Aber wir verstehen nicht genau, wie diese Lerneffekte entstehen und wie nah wir eigentlich am Optimum dessen sind, was erreicht werden könnte.“ Die Art, wie diese Geräte gegenwärtig entwickelt werden, werde zudem der Vielzahl von Menschen, die in ihrer Bewegungsfähigkeit stark beeinträchtigt sind, in unserer alternden Gesellschaft nicht mehr gerecht.

„Wir müssen bei der Entwicklung der Geräte effektiver werden. Doch das wird nur gelingen, wenn wir verstehen, wie die Steuerung und das Erlernen menschlicher Bewegung funktionieren“, sagt Krüger und ergänzt: „Die Voraussetzungen dafür sind in Berlin ideal.“ Derartige Forschungen erfordern Interdisziplinarität. Alle notwendigen Fachgebiete seien mit ausgewiesener wissenschaftlicher Kompetenz hier vertreten.

Krüger: „Berlin kann zum Nukleus einer integrativen Bewegungswissenschaft werden.“

 Sybille Nitsche im Tagesspiegel, Sonnabend, dem 30. Oktober 2010

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