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08
01
2011

Der Schmerz war nie Gegner, sondern Partner. Diskuswerferin Ilke Wyludda war Zeit ihrer Karriere von fragiler Gesundheit. Nun hatte die Olympiasiegerin von 1996 die Wahl, ihr Bein oder ihr Leben zu verlieren. Sie ließ sich das Bein amputieren.

Ilke Wyludda – Die Schmerzensfrau der Leichtathletik – Von Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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„Ilke Wyludda beendet ihre Karriere und die Leiden“ lautete die Schlagzeile der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, als die Olympiasiegerin von Atlanta 1996 vor fast zehn Jahren aufhörte mit dem Diskuswerfen. Nun stellt sich heraus, dass nur der erste Teil der Nachricht zutraf.

Das Ende des Leidens dagegen war eine Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat. Zwei Wochen vor Weihnachten ist der 41 Jahre alten angehenden Ärztin in ihrer Heimatstadt Halle das rechte Bein oberhalb des Knies amputiert worden.

Die Schmerzensfrau der deutschen Leichtathletik stellte sich auf Krücken dem Fotografen der „Bild“-Zeitung und sagte: „Klar wird es Veränderungen geben, Wohnung und Auto müssen umgebaut werden. Aber das Leben ist jetzt so, wie es ist.“ Sie machte sich nie Illusionen darüber, wie es um sie stand. Auf einem medizinischen Kongress vor zwölf Jahren sagte sie: „Der Schmerz ist für mich kein Gegner, sondern Partner.“ Damals war sie Probandin und vor allem Patientin. Inzwischen ist sie Medizinerin.

“Der Schmerz ist für mich kein Gegner, sondern Partner“, sagte Ilke Wyludda einst
 
In vierzehn Tagen wird sie in Halle ihre Approbation als Ärztin für Intensiv- und Notfallmedizin erhalten. So wie sie der „Bild“-Zeitung schildert, dass sie wieder einmal an einer offenen Wunde behandelt werden musste und sich eine Blutvergiftung durch eine Bakterieninfektion ausbreitete, versteht man, dass sie die Entscheidung, das Bein zu opfern, selbst und bei klarem Bewusstsein getroffen hat. „Diese Sepsis hätte tödlich enden können. 50 Prozent aller Betroffenen überleben eine solche Infektion nicht“, wird sie zitiert. „Ich hatte die Wahl, das Bein zu verlieren oder mein Leben. Aber ich wollte leben.“

Die 1,84 Meter große und zu ihrer athletischen Zeit 95 Kilo schwere Ilke Wyludda war Zeit ihrer Karriere von fragiler Gesundheit. Bremsen ließ sie sich davon nicht. Im Jahr ihres Olympiasieges konstatierte sie Arthrose in einem Knie, lädierte Kreuzbänder im anderen, die Kreuzbänder waren schon gerissen, ebenso die Patellasehne. Bis zur Olympiateilnahme in Sydney vier Jahre später stieg die Zahl der Operationen auf mindestens fünfzehn, auch weil eine Achillessehne zweimal riss.

„Wenn ich wieder laufen kann, kann ich auch wieder werfen“

Die Wunde der Operation heilte nicht. Täglich musste sie die große, offene Stelle am Fuß verbinden; schließlich sollte eine Hauttransplantation Heilung bringen. Vier Monate verbrachte Ilke Wyludda 1997 im Rollstuhl. Wenn sie morgens aufstehe, berichtete die 31-Jährige damals, benötigt sie eineinhalb bis zwei Stunden, bis sie das Haus verlassen könne. Schmerzen ließen schon damals Sprints und Sprünge im Training nicht mehr zu; mit Kraftübungen versuchten sie und ihr Trainer Gerhard Böttcher, die Defizite zu kompensieren.

„Ich habe immer gewusst: Wenn ich wieder laufen kann, kann ich auch wieder werfen“, sagte sie im Olympia-Jahr über ihren unbedingten Willen, noch einmal bei den Spielen anzutreten. „Man fühlt sich in dem Moment als etwas Besonderes. Wenn man daran denkt, dass in 100 oder 200 Jahren jemand noch mal die Liste aller Olympiasieger anguckt, und man steht da drin, dann ist das doch ein schönes Gefühl, wenn man seinen Namen in die Ewigkeit eingebracht hat.“

Im Jahr darauf riss ihr im Training ein Brustmuskel. Daraufhin folgte sie dem Rat der Ärzte und machte Schluss mit dem Spitzensport. Die Wahl ihres Ausgleichssports wirkt folgerichtig. Sie entschied sich, auch wegen der angegriffenen Beine, für Rollstuhlbasketball.
„Damals hatte ich ein anderes Leistungsvermögen“

In Split 1990 und in Helsinki 1994 wurde Ilke Wyludda Europameisterin, bei den Weltmeisterschaften von Tokio 1991 und Göteborg 1995 – schon damals nach einer Knochenhautsepsis im Bein – gewann sie jeweils die Silbermedaille. Mit ihrer Bestleistung von 74,56 Metern vom Juli 1989 wird sie in der Bestenliste bis heute als Nummer zwei geführt; hinter dem unglaublichen Weltrekord der Hallenserin Gabriele Reinsch von 76,80 Metern.

„Damals hatte ich ein anderes Leistungsvermögen“, sagte sie lediglich, wenn sie auf den deutlichen Rückgang der Weiten nach dem Ende der DDR angesprochen wurde. Olympiasiegerin wurde sie mit 69,66 Metern. Bei der Europameisterschaft in Budapest 1998 gab sie bei einer Dopingkontrolle die Einnahme von 63 Medikamenten an; alle medizinisch angezeigt.

„In der Physiotherapie stößt man unweigerlich an Grenzen“

„Aufhören fällt nur denen schwer, die hinterher nichts haben“, erwiderte Ilke Wyludda einmal auf den Vorwurf, sie klammere sich an den Leistungssport. Mit der Energie der Spitzenathletin betrieb sie Ausbildung und Beruf. Ihrem Abschluss als Diplomsportlehrerin an der DHfK Leipzig ließ sie noch während ihrer Jahre als Sportlerin den Aufbaustudiengang Rehabilitationssport in Halle folgen. Dann absolvierte sie eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Seit 1997 ist sie in diesem Beruf selbständig und beschäftigt mehrere Mitarbeiterinnen.

„In der Physiotherapie stößt man unweigerlich an Grenzen, die ein Arzt überwinden kann. Diese Lücke wollte ich schließen“, sagte sie im vergangenen Sommer. Ihr Praktisches Jahr absolvierte sie in der Klinik der Berufsgenossenschaft „Bergmannstrost“ in Halle. Insbesondere der Schmerztherapie, kündigte sie an, werde sie sich in ihrem Beruf widmen.

Vom Verlust ihres Beines, da wird man sicher sein können, wird sie sich nicht daran hindern lassen.

Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 8. Januar 2011

author: GRR

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