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08
06
2011

Dass Jamaikaner und Amerikaner läuferisch überlegen sind, bestreitet keiner. Doch beim Staffellauf rechnen die deutschen Sprinter mit „Wechselgewinn“. Und das Staffelprojekt soll sie auch als Einzelläufer schneller machen.

Miteinander und Gegeneinander als Antrieb – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

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Der erste Lauf war richtig schlecht. Im zweiten Sprint zwang sich Verena Sailer zu einem guten Start und erkämpfte Platz drei in 11,63 Sekunden. Doch so richtig lief es für die Europameisterin über 100 Meter erst, als sie als Schlussläuferin der deutschen Staffel gegen den Ostwind ankämpfte, der ihr im Universitätsstadion von Regensburg entgegenblies. „Das ist ein Phänomen“, staunte sie über ihren etwas unrunden Einstieg in die Saison bei der Sparkassen-Gala. „Einzeln war ich so fest und in der Staffel so locker. Das liegt sicher daran, dass man was in der Hand hat.“

Mag sein, dass sich die 25 Jahre alte Allgäuerin, die für die MTG Mannheim startet, am Stab festhält. In der Hand haben sie und die Staffel durch den Erfolg in 43,39 Sekunden auf alle Fälle auch die Qualifikation für die Weltmeisterschaft in Daegu. Im Team sind die Aussichten besser als für jede einzelne deutsche Läuferin. „Wenn ich sagen würde, ich will eine Medaille im Einzel, wäre das schon krass“, sagte die Beste von ihnen, die bei der Weltmeisterschaft von Berlin vor zwei Jahren als schnellste weiße und erfolgreichste europäische Sprinterin im Halbfinale ausschied. „Mein Ziel ist der Endlauf.“ Dass gemeinsam mehr geht, bewiesen die vier deutschen Sprinterinnen, als sie in Berlin Bronze gewannen.
 

Diese Perspektive sorgt für ein bemerkenswertes Miteinander. Marion Wagner, 33 Jahre alt, war nur nach Regensburg gereist, um mit der Staffel zu laufen; die Einzelwettbewerbe mit ihren fast zwanzig Läufen ließ sie aus. Die Mainzerin hat vor zehn Jahren triumphal erlebt, wie stark Gemeinsamkeit macht. Da gewann sie bei der Weltmeisterschaft von Edmonton mit der Staffel die Silbermedaille. Seit der Disqualifikation des amerikanischen Teams mit den gedopten Kelly White und Marion Jones ist sie Weltmeisterin von 2001. Anne Möllinger, ebenfalls Mitglied der Bronzestaffel von Berlin, lief in Regensburg, um wieder in Tritt zu kommen, klaglos im Team Deutschland II.

„Manchmal wächst aus solchem Zugehörigkeitsgefühl eine gute Leistung“, sagte Bundestrainer Thomas Kremer. Er wie sein Kollege Ronald Stein haben in den deutschen Staffeln erhebliche Reserven ausgemacht, mit denen sie die Überlegenheit der Sprinter aus Übersee ausgleichen wollen. Von 42,87 Sekunden, der Berliner Zeit, werde die Staffel sich wohl um mindestens drei Zehntelsekunden verbessern müssen, um bei WM und Olympischen Spielen die Endläufe zu erreichen, sagt Kremer – und ist zuversichtlich.

Durch fliegende Starts sind gut zweieinhalb Sekunden „Wechselgewinn“ drin
 
Seit fünf Jahren verfolgt der Deutsche Leichtathletik-Verband das Projekt Staffel. Ganz einfach lässt sich beim Sprinten belegen, dass Gemeinsamkeit stark macht. Durch die fliegenden Starts von drei der vier Läuferinnen und Läufer sowie flüssige Wechsel seien gut zweieinhalb Sekunden „Wechselgewinn“ zu erzielen, rechnet Stein vor. „Die Staffel ist schneller als ihre vier Mitglieder“, sagt er. Mit diesem Bewusstsein beendeten die Männer in Peking 2008 mit der Finalteilnahme eine Flaute von zwanzig Jahren.

Bei den Männern scheint allerdings weniger das Miteinander als das Gegeneinander anzuspornen. Davon, dass die besten deutschen Sprinter sich aneinanderreiben und miteinander messen, wenn er sie beisammen hat, spricht Trainer Stein. Sebastian Ernst, als einer der besten 200-Meter-Läufer prädestiniert für die Kurven beim Staffellauf, sagt freimütig: „Die Staffel ist toll. Aber man trainiert jeden Tag und bei schlechtem Wetter vor allem für sich selbst.“

Die deutschen Trainer widersprechen der Vorstellung, dass die vier Schnellsten die perfekte Staffel ergäben. „Nicht jeder Geradeausläufer hilft der Staffel weiter“, sagt Stein. Chefbundestrainer Idriss Gonschinska sieht den leichtathletischen Vierer als eigene Disziplin, für die die einzelnen Positionen besetzt werden müssten, wie man das von Spielsportarten kenne: mit Spezialisten.

Das Staffelprojekt macht die einzelnen Läuferinnen und Läufer schnell

Die größten Reserven liegen in der Perfektionierung der Wechsel, an denen sein Team unermüdlich feilt. „Die Jamaikaner und Amerikaner werden das niemals hinkriegen“, sagt Stein, muss aber einräumen, dass das nicht alles ist. „Läuferisch sind sie halt überlegen.“ Das erleben nicht alle so. Martin Keller, für den in der Staffel die Bestzeit von 9,2 Sekunden auf der Zielgeraden zu Buche steht, nutzte das Trainingslager in Florida, um sich mit der Trainingsgruppe des früheren Top-Sprinters Dennis Mitchell bekannt zu machen.

Bei gemeinsamen Startübungen war der Sachse, der sich eine Startschwäche attestiert, einmal als Erster aus den Blocks, und immer ließ er den Olympia-Vierten Churandy Martina von den Niederländischen Antillen hinter sich, einen Sprinter, der die zehn Sekunden schon unterboten hat. Die Genugtuung war ihm noch in Regensburg anzumerken. „Ich glaube ans Glauben“, sagt Gonschinska. „Neben der Bewegungsoptimierung sollen unsere Sprinter Wettkampfkompetenz erhalten. Durch Erfolge mit der Staffel erhält auch jeder Einzelne einen Input.“

Auch umgekehrt soll es also wirken: Das Staffelprojekt macht die einzelnen Läuferinnen und Läufer schnell.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 7. Juni 2011

author: GRR

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