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14
04
2012

Dr. Hartmut Wewetzer vom Tagesspiegel fahndet nach guten Nachrichten in der Medizin. Heute: Schüchternheit ist keine Krankheit. Lob der Leisen ©privat

Dr. Hartmut Wewetzer vom Tagesspiegel fahndet nach guten Nachrichten in der Medizin. Heute: Schüchternheit ist keine Krankheit. Lob der Leisen

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Frage: Wie erkennen Sie, dass ein Finne Sie sympathisch findet? Antwort: Er starrt auf Ihre Schuhe statt auf seine eigenen. Die Finnen sind eben ein introvertiertes Völkchen. Zurückhaltend, ja schüchtern. Und damit eigentlich sehr unzeitgemäß, wie die amerikanische Juristin Susan Cain in ihrem Buch „Quiet“ („Leise“) feststellt, aus dem der Witz stammt.

Die Extrovertierten dominieren, kritisiert Cain. Es komme darauf an, sich in den Vordergrund zu spielen. Stets der Erste, Stärkste, Lauteste zu sein. Selbstdarstellung ist alles. Das fängt in der Schule an, in der die „Gruppe“ immer wichtiger wird – und in der die Wortführer anderen ihren Willen aufzwingen.

Und es geht im Beruf weiter, in dem vielerorts „social skills“, zu Deutsch: Teamfähigkeit als wichtigstes Einstellungskriterium gilt. Ideen werden gemeinsam entwickelt. Die Weisheit des Kollektivs entscheidet. Wer lieber die Tür hinter sich zumacht und selber denkt, scheidet aus.

Mehr noch: Wer schüchtern ist, gilt mitunter als krank.
Der Schüchterne hat nämlich eine Sozialangst-Störung, der am besten mit Psychopharmaka beizukommen ist. Auf dass er bald seine Zurückhaltung aufgibt und sich beim fröhlichen Karnevalsumzug der Selbstbewussten (und Selbstgefälligen) einreiht. Es mag schon sein, dass dem einen oder anderen Schüchternen, der tatsächlich an sich selbst leidet, mit Medikamenten geholfen werden kann.

Aber häufig ist eine gewisse Zurückhaltung Teil des Naturells und nicht krankhaft. Wer in sich gekehrt ist, ist nicht selten auch ein bisschen schüchtern. Es wird Zeit, die Bedeutung von Menschen mit ernstem, leisem, empfindsamem Charakter wieder zu würdigen. Intro- und Extrovertiertheit sind der Nord- und der Südpol der Seele. Wir brauchen beide.

Was wäre, wenn man den notorisch schüchternen Franz Schubert – er bekam in Gesellschaft kein Wort heraus – mit einem Antidepressivum aufgeheitert hätte? Die Welt hätte ein paar Gassenhauer mehr, aber einige der schönsten melancholischen Musikstücke weniger. Einsteins Relativitätstheorie, Newtons Himmelsmechanik, Darwins Evolutionstheorie, Chopins Nachtstücke, Gandhis gewaltloser Umsturz, Orwells „1984“, Spielbergs Filme – alles Schöpfungen von Introvertierten. Moderne Eigenbrötler haben häufig eine innige Verbindung zum Computer. Es sind Nerds wie Microsoft-Gründer Bill Gates, Google-Chef Larry Page und Steve Wozniak, Partner von Steve Jobs bei Apple. Stille Brüter prägen und gestalten die moderne Welt.

Extrovertierte lieben eine reizüberflutete Umwelt und das Risiko, Introvertierte schöpfen Kraft, wenn sie für sich sind, und sie sind vorsichtig. Schlagfertigkeit ist nicht ihre Stärke. Sie denken nach, bevor sie reden. Es ist dieses Zögern und diese Überlegtheit, die vielleicht ihren tieferen evolutionären Sinn haben.
Angesichts der vielen Gefahren, denen unsere Vorfahren in der afrikanischen Savanne ausgesetzt waren, war eine gewisse Bedachtsamkeit womöglich lebensrettend.

Wer laut vor sich hin lärmte, wurde rasch zur Beute. Den Leisen gehörte schon damals die Zukunft.
 

Dr. Hartmut Wewetzer leitet das Wissenschaftsressort des Tagesspiegel.  Sonntag, dem 25. März 2012

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