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23
04
2012

Dr. Dr. med. Lutz Aderhold - Dehnen - wann und wie? ©privat

Dehnen – wann und wie? – Dr. Dr. med. Lutz Aderhold

By GRR 0

Um erfolgreich und verletzungsfrei zu laufen benötigen Sie Kraft, Koordination und Beweglichkeit. Die meisten Läufer wissen, dass Dehnen und Kräftigen wichtig ist und trotzdem wird dieser Bereich des Trainings häufig vernachlässigt. Die Meinungen über das ob, wie und wann gehen weit auseinander.

In den letzten Jahren haben neuere Forschungsergebnisse zum Überdenken von althergebrachten Vorstellungen geführt (Freiwald 2009). Trotzdem muss festgehalten werden, dass viele Fragen noch offen sind. Bisher gibt es jedenfalls keine eindeutigen Studien über die Wirksamkeit von Stretching zur Verletzungsprophylaxe oder Leistungssteigerung. Sportler können nämlich auf Dehnungen individuell sehr unterschiedlich reagieren.

Man muss davon ausgehen, dass Konditionsdefizite durch Dehnen nicht ausgeglichen werden können. Die meisten Läufer leiden aber unter einer verhärteten Oberschenkel- und Wadenmuskulatur. Dadurch wird die Schrittlänge verkürzt und die Laufökonomie negativ beeinflusst. Dehnen (Stretching) verbessert die Flexibilität und Elastizität dieser Muskelgruppen. Allerdings wird die Beweglichkeit auch durch Knochen, Kapseln, Bänder und Nerven begrenzt.

Anatomisch werden in der Muskulatur weder die Aktin- noch Myosinfilamente gedehnt, sondern in erster Linie die Titinfilamente. Bei der Verkürzung oder Verlängerung der Muskulatur kommt es im Bereich der Muskel-Sehnenübergänge zu einer Ab- bzw. Zunahme der in Serie geschalteten Sarkomere. Gedehntes Gewebe zeigt ein typisch viskoeleastisches Verhalten. Es kommt zu Verformungen des Muskel-Sehnengewebes, die nur kurze Zeit anhalten und sich dann wieder zurückbilden. Durch Dehnungen über einen längeren Zeitraum erhöht sich der Dehnungswiderstand, da es zu einer Festigung des Bindegewebes kommt. 

Dehnungen sollten nicht generell, sondern unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen und Zielsetzungen in Sport oder Therapie durchgeführt werden. Es gibt Hinweise, dass statisches Dehnen vor der Laufeinheit die Verletzungswahrscheinlichkeit steigert. Vor dem Laufen müssen Sie sich nicht dehnen. Wenn Sie sich allerdings durch Dehnungen besser fühlen und den Eindruck haben dann lockerer zu laufen, dann dehnen Sie und verwenden dynamische Dehnübungen zum Aufwärmen. Anders als früher angenommen, werden durch dynamische Dehnungen weder Verletzungen noch Reflexe ausgelöst.

Erwärmtes Gewebe besitzt eine bessere Dehnfähigkeit. Stretching (statisches Dehnen) wird deshalb nach der Warmlaufphase (in der kalten Jahreszeit wegen der Erkältungsgefahr nicht ratsam) oder besser nach dem Training durchgeführt. Es ist viel wirksamer als Teil des „Cool downs". Erfahrene Läufer, Trainier und Physiotherapeuten können tagtäglich von den günstigen Wirkungen auf verkürzte Muskeln berichten. Durch die Dehnung wird die Muskulatur im Tonus vermindert und flexibler.

Eine regelmäßig gedehnte Muskulatur besitzt einen größeren Bewegungsumfang, die Muskelfunktion und die Schrittlänge werden dadurch optimiert. Dehnen nach dem Sport entspannt den Muskel-Sehnen-Komplex, fördert damit die Durchblutung, vermindert die neuromuskuläre Erregbarkeit und hat auch einen beruhigenden Einfluss auf das vegetative Nervensystem. Stretching verbessert das Wohlbefinden und das Körpergefühl. Der Sportler fühlt sich nach dem Dehnen einfach „lockerer".

Gerade unsere heutige Zeit ist gekennzeichnet durch sitzende Tätigkeiten und Bewegungsmangel, was zu Muskelverkürzungen und Dysbalancen führt. Hypertrophe Muskeln haben eine erhöhte Ruhespannung und neigen daher zur Verkürzung. Der jeweilige Gegenspieler (Antagonist) neigt zur Abschwächung was zu einer Dysbalance mit folgenden Gelenkproblemen führen kann. Je mehr Dysbalancen vorliegen umso anfälliger wird man auch für Verletzungen.

Ein Muskelungleichgewicht wird beim Sportler sehr häufig festgestellt. Die Folgen sind vermehrte Muskelzerrungen und Sehnenansatzbeschwerden. Allerdings steht der wissenschaftliche Nachweis der Abnahme der Verletzungshäufigkeit durch regelmäßiges Dehnen immer noch aus (Herbert und Gabriel 2002, Witvrouw et al. 2004). Der Einfluss von Dehnungen auf die Verletzungsprophylaxe wird wahrscheinlich überschätzt. In vielen Untersuchungen konnte jedoch gezeigt werden, dass Aufwärmen und Koordinationstraining einen positiven Einfluss auf die Vermeidung von Verletzungen haben (Freiwald 2006). Sicher nachgewiesen ist bisher nur die Verbesserung der Beweglichkeit durch Dehnen (Freiwald 2009). 

 

Dehnen sollte man seine Muskeln immer nur nach einer Aufwärmphase. Beim Dehnen werden verschiedenen Methoden unterschieden (Freiwald 2009):

 

–          Statisches Dehnen

–          Dynamisches Dehnen

–          Anspannen – Entspannen – Dehnen

–          Agonistische Kontraktion und Dehnen

–          Anspannen – Entspannen – Agonistische Kontraktion und Dehnen

 

Die ersten drei Dehnmethoden sind in der alltäglichen Praxis sehr gut durchführbar, die letzten zwei Dehnmethoden müssen unter Anleitung erlernt werden. Falsch sind heftig wippende oder reißende Bewegungen, weil man Verletzungen provozieren kann. Einige dynamische Dehnübungen im Sinne einer Dehngymnastik (Lockerungsübungen) wie z.B. Armschwingen, Beinpendel,  Rumpfdrehen und -seitbeugen kann man vor der sportlichen Betätigung oder nach dem Warmlaufen machen. Diese sollten mit betonter Lockerheit, fließend und nicht abrupt durchgeführt werden.

Im Winter ist es wegen der Erkältungsgefahr besser, das Lauftraining nicht zu unterbrechen. Läufer brauchen keine besonders ausgeprägte Beweglichkeit. Laufen stellt aber eine einseitige Bewegung mit hoher Wiederholungszahl dar. Besonders wenn größere Laufumfänge absolviert werden, lohnt sich Dehnen zur Normalisierung der Muskel-, Sehnen und Gelenkfunktion.

Die statische Dehnung ist zur Erhaltung einer normalen Muskellänge ausreichend und erfolgt nach dem Training, am besten nach dem Duschen. Die statische Dehntechnik ist am einfachsten zu erlernen und wird als besonders entspannend empfunden. Diese Dehnung vollzieht man sanft ohne ruckartige Bewegung in den Widerstand hinein bis zu einem leichten ziehenden Gefühl. Dieses subjektive Dehnungsgefühl muss nicht aus dem Bereich der Muskulatur stammen, sondern kann auch aus anderen Geweben, z.B. den Bändern, Sehnen und Kapseln stammen. Jede Dehnübung soll langsam ausgeführt und für 15 – 20 Sekunden gehalten werden. Es darf kein Schmerz auftreten.

Beim Dehnen nicht nachfedern oder wippen, dadurch wird der Muskel eher fester und es kann zu Zerrungen kommen. Bei allen Übungen sollten Sie ruhig und gleichmäßig atmen. Entspannungsverfahren fördern die Dehnfähigkeit der Muskulatur. Das Dehnprogramm muss nicht viel Zeit in Anspruch nehmen. Die wichtigsten Muskelpartien sollten Sie in einem Basisprogramm jeweils 2x dehnen, dafür benötigen Sie nur ungefähr 10  Minuten. Die größte Zunahme des Bewegungsumfangs findet nach der ersten und zweiten Dehnung statt und nimmt bei der dritten Dehnung kaum noch zu. 

Direkt nach sehr intensiven Belastungen im Training und Wettkämpfen sollten Sie kein intensives statisches Dehnen vornehmen, da dadurch die Gefäße komprimiert und die Durchblutung vermindert wird. Es kommt zu einer Verzögerung der muskulären Regeneration. Lockeres Auslaufen, Auffüllen der Flüssigkeits- und Mineralstoffverluste, eine warme Dusche und anschließend sanftes Stretching und evtl. Massage ist die richtige Reihenfolge. Dehnen Sie erst, wenn sich Ihre Muskulatur wieder lockerer anfühlt.

Stretching sollte nicht angewendet werden in der ersten Phase des Muskelkaters und bei Muskelverletzungen (Muskelzerrung, Muskelfaserriss). Es gibt in der Literatur Hinweise, die eine Verschlimmerung von Muskelkater durch Dehnübungen belegen. Durch Dehnen kann auch kein Muskelkater vermieden werden (Wiemann und Kamphöfner 1995, Freiwald 2009). Wenn Sie eine Verletzung haben, kann durch Dehnung die Situation verschlechtert und der Heilungsprozess verlängert werden. Stretchen des Gegenmuskels (Antagonist) und der Umgebung ist möglich, aber vermeiden Sie das Stretchen verletzter Muskelbereiche.

In der Phase der Wiederherstellung wirken Dehnungen im schmerzfreien, submaximalen Bereich als ausrichtender Reiz auf die bindegewebigen Strukturen. Da durch Stretching die Maximalkraft reduziert wird (Wiemeyer 2003), ist diese Maßnahme bei Schnellkraftsportarten (Sprint, Sprung) kontraproduktiv. Als Ursache werden eine plastische Verformung des Bindegewebes und eine nervöse Reflexhemmung angenommen (Freiwald 2009).

Zusammenfassend können zum Dehnen im Laufsport die folgenden Empfehlungen gegeben werden (Aderhold und Weigelt 2012):

 

Dehnen kann empfohlen werden:

  1. nach leichtem Training (GA 1-Bereich:RDL, EDL, IDL, FS)
  2. nach regenerativen Anwendungen
  3. nach dem Krafttraining

 

Auf Dehnen sollte verzichtet werden:

  1. vor dem Training und Wettkampf
  2. nach hartem Training (GA 2-Bereich: TDL, WHL) und Wettkampf
  3. im verletzten Bereich und bei Überbeweglichkeit

 

Legende: RDL: = regenerativer Dauerlauf, EDL = extensiver Dauerlauf, IDL = intensiver Dauerlauf, FS = Fahrtspiel, TDL = Tempodauerlauf, WHL = Wiederholungsläufe

 

 Dr. Dr. med. Lutz Aderhold

 

Literatur:

Aderhold L, Weigelt S. Laufen! … durchstarten und dabeibleiben – vom Einsteiger bis zum Ultraläufer. Stuttgart: Schattauer 2012.

Freiwald J. Stretching für alle Sportarten. Hamburg: Rowohlt 2006.

Freiwald J. Optimales Dehnen. Sport – Prävention – Rehabilitation. Balingen: Spitta 2009.

Herbert RD, Gabriel M. Effects of stretching before and after exercising on muscle soreness and risk of injury: systematic review. Br Med J 2002; 325:468-72.

Wiemann K, Kamphöfner. Verhindert statisches Dehnen das Auftreten von Muskelkater nach exzentrischem Training? Dtsch Z Sportmed 1995; 46. 411-21.

Wiemeyer J. Dehnen und Leistung – primär psychophysiologische Entspannungseffekte? Dtsch Z Sportmed 2003; 54: 288-94.

Witvrouw E, Mathieu N, Danneels L, McNair P. Stretching and injury prevention: an obscure relationship. Sports Med 2004; 34: 443-9.

 

 

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Das Buch von Aderhold/Weigelt:

 

Aderhold/Weigelt: Laufen! Die Buchvorstellung aus dem Schattauer Verlag

 

 

author: GRR

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