Marathon-Geschichte(n) - Paul Tergat - Vorbild und Förderer - Michael Reinsch, Berlin in der Frankfuter Allgemeinen Zeitung ©Helmut Winter
Marathon-Geschichte(n) – Paul Tergat – Vorbild und Förderer – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
01.10.2013 · Laufidole vererben ihre Idee: „Du kannst großartig sein, aber sei zugleich bescheiden.“ Marathon-Weltrekordhalter Wilson Kipsang wurde von Paul Tergat inspiriert, der sich wiederum auf Kipchoge Keino beruft.
Vielleicht gibt es Erben auch im Sport, wo jeder Erfolg hart erkämpft werden muss. Wilson Kipsang hat sich mit dem Weltrekord von 2:03:23 Stunden, den er am Sonntag beim Berlin-Marathon lief, jedenfalls zumindest in die Tradition von Paul Tergat gestellt, der vor zehn Jahren in Berlin den Marathon-Weltrekord unter 2:05 Stunden drückte.
„Wir sind wie Verwandte, unsere Familien sind eng befreundet“, erzählte der Kenianer Kipsang am Tag danach. „Paul Tergat habe ich zu verdanken, dass ich ein Athlet bin. Er hat mich beraten beim Training und im Leben.“
Tergat trat derweil ebenfalls ein großes Erbe an. Da Kipchoge Keino, der Olympiasieger von Mexiko 1968 und München 1972, im Alter von 73 Jahren aus dem Internationalen Olympischen Komitee (IOC) ausgeschieden ist, nahm der illustre Kreis unlängst bei seiner Vollversammlung in Buenos Aires dessen fast dreißig Jahre jüngeren Landsmann auf.
Erinnert man sich an den Athleten Tergat, erscheint die Wahl zwingend. Bei den Olympischen Spielen von Atlanta 1996 und von Sydney 2000, bei den Weltmeisterschaften von Göteborg 1995, Athen 1997 und Sevilla 1999 unterlag Tergat über 10.000 Meter stets dem Äthiopier Haile Gebrselassie – und nie schien er enttäuscht, nie haderte er, sondern sagte so kluge Dinge wie: „Wir Läufer sind nicht nur dazu da, Medaillen zu gewinnen. Es ist auch schön, mit anderen Läufern zusammen zu sein und Spaß zu haben.“
Und während er in den Stadien eine Reputation als Silber-Läufer erwarb, gewann er querfeldein fünfmal nacheinander die Weltmeisterschaft. Den Lauf über Stock und Stein liebt er heute noch so sehr, dass er ihm gern zu olympischem Status verhelfen würde – bei den Winterspielen. Auf der Bahn nahm Tergat Gebrselassie 1997 für ein Jahr den Weltrekord über 10.000 Meter ab (26:27,85 Minuten), dann stieg er um auf Straßenrennen.
Den Weltrekord von Berlin 2003 nennt er den Höhepunkt seiner Karriere. Dieses Rennen verschaffte Tergat endlich breite Anerkennung als Sieger: „Ich selbst wusste immer, dass ich ein guter Läufer war“, sagte er, als er zum Besuch des Marathons nach Berlin zurückkehrte.
War es diese selbstbewusste Bescheidenheit, dieser wie ein Vorbild wirkende Sportsgeist, die ihn vom Athletenvertreter zu einem IOC-Mitglied ersten Ranges gemacht hat? Das hält Tergat für ein Missverständnis. „Nicht meine Bescheidenheit und Schüchternheit haben mich zum IOC-Mitglied gemacht“, sagte er. „Ich arbeite hart, glauben Sie mir.“
Um Überzeugungsarbeit zu leisten, sei er durch Länder und Kontinente gereist, von Afrika aus nach Europa, nach Südamerika, nach Asien. Seine Botschaft: „Ich liebe den Sport, deshalb diene ich ihm.“
„Du kannst großartig sein, aber sei zugleich bescheiden“
Im Jahr seines Marathon-Weltrekords hatte Tergat die Geschäftsidee seines Lebens. Seitdem veranstaltet er die von kenianischen Zeitungen, vom Fernsehen und von der Wirtschaft unterstützten Wahlen zur „Sport-Persönlichkeit des Jahres“ und vergibt bei einer Gala in Nairobi Auszeichnungen in mittlerweile 13 Kategorien, darunter auch Ehrungen für die Trainer und die Schulmannschaften des Jahres.
Mit seiner Stiftung fördert Tergat junge Menschen, die zur Entwicklung Afrikas beitragen sollen, und Sportlerinnen und Sportler bereitet er in Seminaren mit Finanzberatern und Juristen auf das Profileben vor. „Sportler ist man nur einen Teil seines Lebens“, sagt er. Deshalb brauchten auch Athleten eine Ausbildung und eine berufliche Perspektive für die Zeit danach ebenso wie Rücklagen. Seine Devise: „Du kannst großartig sein, aber sei zugleich bescheiden.“
Wilson Kipsang hat in der Nähe des Stadions, auf der er zweimal pro Woche mit seiner Traininggruppe Intervalle läuft, ein Hotel gebaut. Es soll ihn und seine Familie ernähren, wenn er nicht mehr läuft. Außerdem dient es als Treffpunkt von Kipsangs Trainingsgruppe, immerhin rund vier Dutzend Athleten.
Wie es scheint, übernimmt da jemand Verantwortung für seine weniger erfahrenen und weniger erfolgreichen Laufpartner. Könnte sein, dass Wilson Kipsang auch damit das Erbe von Paul Tergat antritt.
Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Dienstag, dem 1.10.2013