Claudia Pechstein mit Dr. Jochen Zinner ©Camera 4
Olympia in Sotschi Darf Claudia Pechstein die deutsche Flagge tragen? Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
04.02.2014 · Claudia Pechstein trägt noch immer das Stigma der Doperin. Damit stellt sie den deutschen Sport vor ein Problem, dessen Lösung pikant ist. Soll, besser: darf Pechstein die deutsche Flagge zur Olympia-Eröffnung tragen?
Für Sympathie kann man sich nichts kaufen“, sagt Claudia Pechstein. „Wenn man die Wahrheit sagt, eckt man hier und da an. Ich bin trotzdem immer für die Wahrheit. Aber die will in diesem Land niemand hören.“
Wie sie so spricht, an einem langen Tisch unter Deck eines auf der Dahme vertäuten Ausflugsdampfers, klingt die Eisschnellläuferin aus Berlin, als brauchte sie keinen Zuspruch. Wut ist ihr Antrieb. Enttäuschung, Grimm und der unbedingte Wille, es denjenigen zu zeigen, die glaubten, dass die Ära der streitbaren Athletin mit der zweijährigen Sperre von 2009 bis 2011 beendet sei, treibt sie an.
Noch nie war sie so schnell wie jetzt. In Inzell besiegte sie in der zurückliegenden Woche über 3000 Meter die Weltmeisterin Ireen Wüst aus den Niederlanden und unterbot deren Bahnrekord um mehr als eine halbe Sekunde (4:00,92 Minuten). Damit stellt Claudia Pechstein den deutschen Sport vor ein Problem, dessen Lösung pikant ist. Soll, besser: darf Claudia Pechstein die deutsche Flagge beim Einmarsch der Mannschaften zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele in Sotschi tragen?
Mit fünf Olympiasiegen, mit neun Medaillen von den Spielen in Albertville und Lillehammer, Nagano, Salt Lake City und Turin ist sie die erfolgreichste Wintersportlerin des Landes. Seit Ablauf ihrer Sperre hat sie, die in drei Wochen 42 Jahre alt wird, sechs Plaketten bei Europa- und Weltmeisterschaften geholt. Eine Entscheidung darüber soll am Mittwoch fallen.
DOSB-Image-Magazin verzichtet auf Pechstein
Doch immer noch trägt sie das Stigma der Doperin. Sponsoren hielten sich zurück, berichtet ihr Manager. Die Stiftung Deutsche Sporthilfe unterstützt sie mit dem Höchstsatz, doch zum Eliteteam der Besten gehört sie explizit nicht. Die Bundespolizei, ihr Arbeitgeber, lässt ihr Zeit zur Olympiavorbereitung, doch in die Sportfördergruppe des Innenministers darf sie nicht zurückkehren.
Sie tue Dienst in einer Einsatzhundertschaft, erzählt sie; am 1. Mai sei sie mit Helm und Schild in Berlin 22 Stunden lang im Einsatz gewesen. Ein Disziplinarverfahren wegen Dopings ging zu ihren Gunsten aus. Das Image-Magazin des Deutschen Olympischen Sportbundes, gerade mit zwölf deutschen Medaillenkandidaten auf sechs Seiten erschienen, ignoriert Claudia Pechstein.
Mit einem Indizienbeweis versuchte der internationale Eisschnelllauf-Verband ISU seinerzeit Claudia Pechstein zu überführen, eine Argumentationskette, die auf erratischen Blutwerten basierte, auf der sprunghaften Zahl von Retikulozyten, jungen roten Blutkörperchen. Diese Beweisführung gibt es nicht mehr im Sport.
Um Doper ohne positive Probe zu überführen, bedarf es heute mehr als eines Parameters. Medizinische Gutachter haben Claudia Pechstein und ihrem Vater nachträglich eine Erbkrankheit attestiert, eine seltene Form der Kugelzellenanämie, die, vereinfacht gesagt, rote Blutkörperchen absterben lässt und damit die Produktion neuer anregt.
Auf der anderen Seite steht, so paradox ist Spitzensport, der Höhenflug der Athletin, der sie immer verdächtiger machte. Gut möglich, dass er längst nicht zu Ende ist. Anders als Ireen Wüst will Claudia Pechstein nicht die Überlegenheit der tschechischen Olympiafavoritin Martina Sablikova akzeptieren und in Sotschi nur um Platz zwei kämpfen. Sie will Gold.
„Der Zufallsgenerator hat wieder nur Pechstein drinne“
Auf Wettkampfreise in Amerika sei sie zeitweise täglich zur Doping-Kontrolle gebeten worden, erzählt sie. In Deutschland klingelten Kontrolleure sie manchmal alle drei Tage raus. „Der Zufallsgenerator hat wieder nur Pechstein drinne“, sagt sie bitter. Sie glaubt nicht an Zufall. Mehr als fünfhundert Proben habe sie in ihrem Leben abgegeben; niemand im Sport sei öfter kontrolliert worden – schon gar nicht Konkurrentinnen aus Russland und Polen.
In ihrem Kampf hat Claudia Pechstein einen Gefährten gefunden. Die Sperre habe sie der Olympischen Spiele von Vancouver beraubt und ihres Vermögens; sie habe an Selbstmord gedacht. Doch sie habe Matthias Große kennengelernt, sagt sie, und wirft dem stämmigen Mann mit dem kurzgeschorenen Haar einen liebevollen Blick zu. Er sei der Erste gewesen, der sie wie eine Dame behandelt habe, erzählte sie einmal. So engagiert kämpft der Mann an ihrer Seite, dass er gelegentlich davon spricht, dass „wir“ Wettkämpfe und Doping-Kontrollen durchstehen müssten.
Der Zeitplan der Olympischen Winterspiele in Sotschi
Wie Claudia Pechstein kein Geheimnis daraus macht, dass sie die Wiederbelebung des DDR-Sportsystems für richtig hielte, macht Große deutlich, dass der Fall der Mauer die Koordinaten seiner Lebensplanung ruinierte. Seine Geheimdienstausbildung in Minsk wurde abgebrochen, in der Heimat hat er mit Currywurstbude, Maklerbüro und Bauunternehmung einen neuen Aufstieg begonnen. Die Schadensersatzklage von Claudia Pechstein gegen die ISU, die einige Millionen Euro bringen soll, hat er zu seiner Sache gemacht.
Auf einen weißen Hummer, diesen überdimensionierten Geländewagen, hat Große in goldenen Lettern „Mission Sotschi“ geschrieben. Wie er sie mit diesem panzerartigen Gefährt zu Wettkampf und Pressegespräch chauffiert, macht er wie mit seinen gelegentlich aggressiven Auftritten gegenüber Politikern und Journalisten deutlich, dass sie beide sich nicht aufhalten lassen.
„Das kommt alles auf die große Rechnung“
„Ich hole mir zurück“, sagt Claudia Pechstein, „was mir genommen wurde.“ Sie meint ebenso wie ihre zehnte olympische Medaille, die sie schon in Vancouver hätte gewinnen wollen, entgangenes Sponsoring, die Kosten ihres juristischen Kampfes und die Kompensation für Ferien im „Club der Besten“. Sie wurde ausgeladen. „Das kommt alles auf die große Rechnung“, sagt sie.
Die Logik ihres Rachefeldzuges spricht dafür, Claudia Pechstein nicht die Flagge tragen zu lassen. Das würde ihren Antrieb vermutlich weiter befeuern.
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