Meb Keflegzighi besiegte überraschend beim Boston-Marathon die komplette ostafrikanische Konkurrenz. ©Victah Sailer
Kenenisa Bekele und Wilson Kipsang überragten – Rückschau auf ein ereignisreiches Frühjahr in der internationalen Straßenlaufszene – Helmut Winter zieht Bilanz
Bezeichnenderweise war es das direkte Duell zwischen Kenenisa Bekele und Wilson Kipsang beim Great Manchester Run am 18. Mai 2014, welches die beiden prägnantesten Akteure des Straßenlaufs im diesem Frühjahr zusammenbrachte. Dass am Ende dieses 10 km Rennens der Äthiopier relativ sicher die Nase vorne hatte, demonstrierte die Rückkehr des Ausnahmeläufers im Cross und auf der Bahn zu alter Stärke.
Die lange, durch schwerwiegende Verletzungen bedingte Durststrecke scheint vorüber zu sein, „Kenny“ ist fast wieder der Alte und agiert auf dem Niveau der Weltspitze.
Bereits beim seinem Debut im November letzten Jahres beim Great North Run deutete Bekele im Halbmarathon sein Potential mit einem eindrucksvollen Finale gegen den britischen Star Mo Farah an. Entsprechend hoch waren dann auch die Erwartungen bei seinem Debut über die volle Distanz, das er – zunächst etwas überraschend – auf dem nicht einfach zu laufenden Kurs des Paris-Marathons am 6. April gab. Bis zur halben Distanz nach 62:09 war in Paris noch alles bestens, dann schwächelten die Tempomacher und nach gut 25 km musste Bekele bereits selbst aktiv werden.
Bis 30 km in 1:28:39 hielt sein Landsmann Tola noch mit, dann war er auf sich allein gestellt. Sein eindrucksvoller Zwischenspurt hinterließ Spuren und mit leichten Beinkrämpfen wurde der Topstar langsamer, um sich am Ende sichtbar in 2:05:04 ins Ziel zu quälen. Das war zwar nicht die erhoffte Zeit im Bereich von 2:04, aber Bekele verbesserte den Streckenrekord in Paris um eine gute halbe Minute.
Für einen ersten Marathon war das ein eindrucksvoller Einstand und Platz 5 in der momentanen Weltjahresbestenliste. Bekele hat ohne Zweifel erhebliches Potential für schnellere Zeiten und lotet bereits den nächsten Auftritt bei einem Herbstmarathon aus.
Ob er dann bereits die globale Bestmarke seines Kontrahenten Wilson Kipsang (2:03:23) gefährden kann, bleibt abzuwarten. Dessen Weltrekord hielt in diesem Frühjahr allen Angriffen stand. Am nächsten kam dieser Marke bezeichnenderweise er selbst beim höchstkarätig besetzten London-Marathon, wo man es sich sogar leisten konnte, die Lauflegende Haile Gebreselassie als Tempomacher und den nicht weniger populären Mo Farah „mitlaufen“ zu lassen. So richtig was gebracht – außer medialer Aufmerksamkeit und gewaltigen Spesen – hat das eigentlich nichts. Haile war als Tempomacher völlig überfordert, führte die Spitzengruppe im Raketentempo in 14:21 zur 5 km Marke, wurde dann zur 10 km-Marke (29:11) deutlich langsamer, um bald danach wegen einer Pollenallergie auszusteigen. Dies war ihm auch schon zuvor an gleicher Stelle als Topläufer widerfahren.
Sein Verhalten irritierte die weiteren Tempomacher dermaßen, dass bei der Hälfte in 1:02:30 die angekündigte Jagd auf den Weltrekord definitiv vorbei war. Von der versammelten Weltklasse – vom Weltrekordler, Weltmeister, Olympiasieger, etc. war alles in London am Start – waren am Ende nur der Kenianer Wilson Kipsang und sein Landsmann Stanley Biwott in der Lage, diese Achterbahnfahrten im Tempoverlauf halbwegs zu verdauen.
In der Schlussphase zeigte Kipsang einmal mehr seine außergewöhnliche Dominanz in der internationalen Marathonszene und setzte sich vom Mitstreiter in neuer Kursrekordzeit von 2:04:29 souverän ab. Damit blieb er auch um 3 Sekunden unter der Weltjahresbestzeit vom Dubai-Marathon im Januar, dessen 18jähriger Sieger Tsegaye Mekonnen ebenfalls in London dabei war und in 2:08:06 Fünfter wurde. In Dubai war er im Januar noch 3 ½ Minuten schneller.
Und der Liebling aller Briten, Mo Farah, beeindruckte nach dem Lauf mit sehr ehrlichen Statements im Interview. Auf der Strecke war seine Vorstellung beim Debut weniger überzeugend und nicht in Ansätzen zu vergleichen mit dem Auftritt von Bekele in Paris. Rückblickend war es eine weise Entscheidung, die beiden Topstars nicht in London zusammenzubringen. Mo lief im ersten Teil in einer zweiten Gruppe, deren Abstand zur Spitze sich nach zehn km im Bereich einer ¾ Minuten einpendelte. Als dann nach 30 km die Spitze auseinanderflog, lag er 1 Minute zurück. Aber statt nun in einer Aufholjagd mögliche Plätze gutzumachen, lief auch bei Mo nur noch wenig, im Ziel war sein Rückstand auf den Sieger Kipsang auf fast vier Minuten angewachsen.
Für seine Ansprüche war das indiskutabel.
Ein erfolgreiches Debut sieht sicher anders aus. Das realisierte auch Farah, der nun seine Stärken zunächst wieder auf der Bahn ausspielen will. Die Fragen zu seiner aktuellen Leistungsfähigkeit auf den Langdistanzen, die nach seinem Sturz und der nachfolgenden Jagd auf Platz 2 beim Halbmarathon im eiskalten New York City auftraten, wurden in London eindeutig beantwortet. Beim derzeit besten deutschen Langstreckler auf der Bahn, Arne Gabius aus Tübingen, fiel die Antwort auf diese Frage weitaus positiver aus.
Nach verbummelten ersten 5 km durch den Central Park in 15:15 konnte er zwar die Tempoverschärfung der Kenianer nicht mitgehen, lief aber trotzdem ein großartiges Rennen und wurde mit 1:02:09 der achtschnellste deutsche Halbmarathonläufer aller Zeiten mit Potential zu noch schnelleren Zeiten. Im diesem Jahr schaffte nur noch André Pollmächer mit 1:02:47 Ende März beim Berliner Halbmarathon eine Zeit in ähnlichen Regionen.
Bei diesem Halbmarathon in Berlin wollte es Leonard Komen, der Weltrekordhalter im Straßenlauf über 10 km und 15 km, seiner Landsfrau Florence Kiplagat gleichtun, die im Februar ohne große Ankündigung in Madrid die globale Bestleistung von Mary Keitany auf grandiose 1:05:12 steigerte. Ein ungestümer Beginn mit 2:40 für den ersten km und fehlende Wettkampfpraxis ließen allerdings den Rekordversuch in Berlin bereits jenseits der 10km-Marke scheitern. Am Ende verfehlte er auch noch die Jahresweltbestzeit von 59:08, die der Sieger bei den Weltmeisterschaften in Kopenhagen, Geoffrey Kipsang Kamworor (KEN), einen Tag zuvor lief, wobei er die lange Siegesserie des amtierenden Weltrekordhalters Zersenay Tadese (ERI) beendete.
Komen lief in Berlin immer noch gute 59:14 und wurde dabei bis zur Ziellinie von Abraham Cheroben mit gleicher Zeit bedrängt. Dass sein bis dahin unbekannter Landsmann eine viel versprechende Zukunft auf den Straßen vor sich hat, zeigte er bereits einen Monat später gleichfalls auf Berlins Straßen, wo er beim 25 km-Lauf „BIG 25 Berlin“ im ersten Teil auf Kurs des Weltrekords von Dennis Kimetto (1:11:18) lag. Starker Wind verhinderte dann aber einen neuen Rekord. Seine Zeit von 1:11:47 nach Passieren der Ziellinie im Berliner Olympiastadion war die drittschnellste jemals erzielte Leistung über diese allerdings nur noch selten gelaufene Distanz. Und auch 2014 lag die internationale Konkurrenz in Kumamoto mit einer Siegerzeit von 1:13:54 (Japan) und in Grand Rapids (USA) von 1:14:08 sehr deutlich gegenüber Berlin zurück.
Nach dem verunglückten „Hasenjob“ beim London-Marathon sorgte Haile Gebrselassie kurz darauf für weitere negative Schlagzeilen. Durch seine Pollenallergie bedingt, litt beim Altmeister nach London das Training, und er musste seine Ambitionen auf den Masters-Weltrekord beim Hamburg-Marathon absagen. Dort war man ferner durch die Absage des Topstars Martin Lel im Leistungsniveau getroffen, die „Ersatzleute“ gaben an der Alster am 4. Mai ihr Bestes, insbesondere der Äthiopier Shumi Dechase als Sieger in 2:06:43, fast genau ein 3 Minuten-Schnitt pro km.
Damit war der Höhenflug Hamburgs in den letzten Jahren zunächst gestoppt, eine Steigerung des Kursrekords aus dem letzten Jahr (2:05:30, Kipchoge) war schon im Vorfeld unrealistisch. Dafür war aber das Resultat in Hamburg in der Breite mit 9 Läufern unter 2:10 beachtlich, darunter auf Platz 9 auch der japanische Vielstarter Yuki Kawauchi in 2:09:36. Für Kawauchi war es bereits der fünfte Marathon in 2014, Wettkämpfe im Halbmarathon erledigt der junge Selfmademan fast im Wochentakt.
Eine Woche zuvor wollte man in Hannover dem Konkurrenten aus dem Norden die „Show stehlen“, da mit Francis Bowen gleichfalls ein Kandidat für den Masters-Weltrekord am Start war. Aber nach Hailes Absage in Hamburg lief es auch bei Bowen nicht rund. Beim Halbmarathon in 1:04:32 lag er noch auf Kurs, um dann aber zusammen mit seinen Konkurrenten gewaltig nachzulassen. Hinter dem Sieger Henry Chirchir in 2:11:30 belegte er zwar in der gleichen Zeit Platz zwei, lag aber weit hinter der Masters-Bestmarke zurück.
Und auch in Rotterdam erfüllten sich die Erwartungen an neue Bestmarken nicht. Das lag weniger an dem Topstar des Laufs, Eliud Kipchoge aus Kenia, der spätestens seit seinem Duell mit dem späteren Weltrekordler Wilson Kipsang beim Berlin-Marathon 2013 zur absoluten Weltspitze zu zählen ist (2:04:05), sondern am heftigen Wind in der niederländischen Hafenstadt. Spätestens beim Halbmarathon in 1:02:40 war bei den ungünstigen Bedingungen klar, dass sich die hohen Ambitionen in Rotterdam (wieder einmal) nicht erfüllten.
Im Alleingang zeigte aber Kipchoge im zweiten Part seine Klasse und schaffte noch ausgezeichnete 2:05:00, mehr war an diesem Tag in Rotterdam nicht drin. Im Interview versprach Kipchoge, nach Rotterdam zurückzukommen und dann die Rekorde zu steigern.
Beim Boston-Marathon war man diesbezüglich erfolgreicher – zumindest bei den Frauen – , denn die nutzten die guten Bedingungen auf dem allerdings für Bestzeiten untauglichen Kurs zu einem Feuerwerk von Topzeiten. Allen voran Rita Jeptoo, die in einem grandiosen Finale den Kursrekord auf beachtliche 2:18:57 drückte. In ihrem Schlepptau lief Buzunesh Dibaba (ETH) in 2:19:59 noch unter der Schallmauer von 2:20 Stunden und die Zeit von 2:22:02 von der im ersten Teil des Laufs sehr aktiven Shalane Flangan (USA) reichten nur zu Platz 7.
Damit waren die Frauen in Boston sogar schneller als beim London-Marathon, wo sich im Sprintduell Weltmeisterin Edna Kiplagat in 2:20:21 knapp gegen Florence Kiplagat in 2:20:24 (die Beiden sind nicht miteinander verwandt) durchsetzte. Auf Platz 3 schaffte dann in 2:20:35 die Bahnlegende Tirunesh Dibaba ein überaus beachtliches Debut. Ähnlich wie Bekele kann man von der Äthiopierin in den nächsten Jahren im Marathon noch einiges erwarten.
Schnelle Zeiten hatte man in Boston auch bei den Männern erwartet, einer der Topläufer Dennis Kimetto hat im Vorfeld sogar eine Zeit unter 2:03 ins Auge gefasst. Doch dann kam alles ganz anders und sehr überraschend. Im „Jahr 1“ nach dem Bombenattentat nahe des Zielbereichs glich die Strecke einem Hochsicherheitstrakt, was offensichtlich die Männer dazu verleitete, gleichfalls sehr vorsichtig zur Sache zu gehen. Als sich dies auch im ersten Drittel nicht änderte, fasste sich der US-Haudegen Meb Keflezighi ein Herz und setzte sich schnell vom Feld ab. Wie es geschehen konnte, dass Meb bei einem Halbmarathon-Split von 1:04:20 einen Vorsprung von 30 Sekunden gegenüber seinen hochkarätigen Verfolgern herauslaufen konnte, dürfte für immer ein Rätsel bleiben (eine nur bedingt schlüssige Erklärung findet sich auf der Webseite des US-Laufkommentators Tony Reavis).
Als die Verfolger dann nach 30 km ernst machten, war es zu spät. Obwohl Wilson Chebet von 35 km nach 40 km in 14:29 lief, konnte er einen bravourös kämpfenden Keflezighi nicht mehr einholen. Der als Kind aus Eritrea eingewanderte US-Läufer siegte angesichts der übermächtigen Konkurrenz völlig unerwartet in 2:07:37 und rettete dabei einen Vorsprung von 11 Sekunden vor Chebet über die Ziellinie. Damit hatten die Medien auch im Jahr nach dem Bombenattentat wieder ihre Schlagzeilen, diesmal aber – gottseidank ! – auf sportlicher Seite.
Dass bei diesem Sieg an einem denkwürdigen Tag und an historischer Stelle die favorisierten Afrikaner etwas Schützenhilfe geleistet haben mögen, wurde allerdings von allen Seiten vehement bestritten und würde auch die großartige Leistung des Siegers ungebührend verkennen.
Und großartig war auch der Auftritt der deutschen Läuferin Anna Hahner beim Wien-Marathon am 13. April (die Marathonläufe in Wien, Rotterdam und London fanden fast zur gleichen Stunde statt), die mit einer taktischen Meisterleistung die am Ende schwächelnde Caroline Chepkwony noch abfangen konnte und in 2:28:59 siegte. Nicht so erfolgreich erging es ihrer Schwester Lisa, die beim Hannover-Marathon nach 15 km verletzungsbedingt aufgeben musste.
Das anschließende Gezerre mit dem Verband um eine EM-Teilnahme der Hahner-Twins gehörte zu der Kategorie von Possen, die die Laufszene in Deutschland kaum weiterbringen. Dabei wird der Stellenwert des Marathons bei Kontinentalmeisterschaften in der Regel überschätzt; Hand aufs Herz: Kennen Sie die Namen der aktuell amtierenden Marathon-Europameister?
Im Gegensatz zu den Hahners plant der beste deutsche Marathonläufer André Pollmächer in Zürich bei der EM am Start zu sein. Beim Düsseldorf-Marathon am 26. April hatte er Pech und verpasste bei strömendem Regen in 2:13:59 auf Platz 11 eine deutlich bessere Zeit. Die afrikanische Konkurrenz lief allerdings auch bei diesen Bedingungen in anderen Leistungsregionen, was die Zeit des Siegers Gilbert Yegon aus Kenia in 2:08:07 belegt. Da mit Jan Fitschen, Falk Cierpinski und Sören Kah weitere Leistungsträger bei den Männern in diesem Frühjahr ausfielen, ist die Marathonbilanz der deutschen Männer auch um Jahr 2014 unvermindert trist.
Dabei bleibt die globale Marathonszene weiterhin in Bewegung, und nicht nur bei den vermeintlichen Topevents der Szene gab es großartige Leistungen. In diesem Zusammenhang bleibt vor allem der Wien-Marathon zu nennen, wo der Äthiopier Getu Feleke den Kursrekord auf großartige 2:05:41 schraubte und somit die österreichische Hauptstadt in den Kreis der erweiterten Weltspitze katapultierte.
Topzeiten gab es auch am 6. April im koreanischen Daegu durch Yemane Adhane (ETH) 2:06:51 sowie beim Linz Donau Marathon durch Laban Mutai (KEN) in 2:08:03 oder am 11. Mai in Prag in 2:08:07 durch Patrick Terer (KEN).
In Prag geriet der Auftritt des Topathleten und zweitschnellsten Marathonläufer aller Zeiten (2:03:06) gewaltig daneben. Moses Mosop machte seinem Spitznamen „Big Engine“ wenig Ehre, sein Motor stotterte erheblich. Anstandshalber quälte er sich zwar bis ins Ziel durch, aber 2:20:34 sind für seine Standards undiskutabel und Coach Canova führt die lange Serie nie ausgeheilter Verletzungen in seinem Fall an. Sicherlich ist das auch ein Preis, den Eliteathleten bei dem immer höher werdenden Erwartungsdruck im globalen Zirkus der Marathonevents zu zahlen haben, auch angesichts des Drucks durch ein schier unerschöpfliches Reservoir an nachrückenden leistungshungrigen jungen Nachwuchsläufern.
In den deutschen Medien – eine Thematik, die sich kaum zum Besseren wendet – war von den aufregenden Ereignissen auf den Straßen dieser Welt nur wenig zu erfahren. Bei den Öffentlich Rechtlichen erst recht nicht, die sich immerhin darauf konzentrierten, wenige deutsche Läufe in den 3. Programmen in Form von Städtetouren zu präsentieren.
So blieb dem interessierten deutschen Zuschauer nur das Internet, um z.B. Anna Hahners tolle Aufholjagd in Wien mitzuerleben. Der online-Zugriff feierte im Frühjahr – so man erfolgreich einen Link für eine Übertragung ausfindig machen konnte – weitere Erfolge und ist auf dem besten Weg, die schwerfälligen althergebrachten Übertragungskanäle überflüssig zu machen.
Es darf als sicher gelten, dass diese Entwicklungen an den öffentlich rechtlichen TV-Versorgern nicht spurlos vorübergehen werden. Auch dies könnte eine interessante Erkenntnis eines überaus ereignisreichen Marathon-Frühlings sein.
Helmut Winter