Leichtathletik-WM: Unter Beobachtung – Michael Reinsch, Peking in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

Mit der Symbolik ist es nicht so leicht. Im Vogelnest, dem Stadion der Leichtathletik-Weltmeisterschaft, sieht es aus, als wäre ein Unglück geschehen. Auf die Tribüne der Gegengeraden scheinen riesige grüne Balken gestürzt zu sein; ein gutes Dutzend Blocks ist für Zuschauer gesperrt.

Doch das wirkt nur so, wenn man im Stadion ist. Sieht man das Gebilde auf dem Fernsehschirm, fügen sich die vermeintlichen Trümmer zu dem Bild eines starken Baumes, der das Vogelnest trägt, der als Blüten die Logos von Weltmeisterschaften trägt und der tiefe Wurzeln in China treiben soll. Das ist schön gedacht, das soll die Leichtathletik sein.
 
Vielleicht liegt sie gar nicht in Trümmern. Man wird sich darauf einigen können, dass sie ziemlich derangiert ist. Systematisches Doping in Russland, starke Hinweise auf Epo-Doping und ein Todesfall in Kenia, Tausende von Blutwerten, die den Verdacht nahelegen, dass jeder dritte Leichtathlet in den Ausdauerdisziplinen manipuliert, und zusätzlich zu den dreißig Doping-Fällen der vergangenen Weltmeisterschaften sind nun – durch die Untersuchung eingefrorener Proben – fast ebenso viele neue von Jahre zurückliegenden Weltmeisterschaften annonciert; erst nach der WM sollen sie mit Namen und Daten versehen werden.

Weder von der Untersuchungs- noch von der Ethikkommission, die sich seit Monaten mit all dem und noch einigem mehr beschäftigen sollen, gibt es eine Erklärung, nicht mal die, warum es keine gibt. Und der scheidende Präsident beharrt mittlerweile bei jedem öffentlichen Auftritt darauf, dass er und seine Sportart schon immer alles richtig gemacht hätten und die Leichtathletik recht eigentlich durch und durch sauber sei.
 
Mit dem Beginn der Wettkämpfe, besser: mit dem Einsatz der Fernsehübertragungen, stehen statt ihm und seinen Schwierigkeiten die Athleten und ihre Leistungen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die faszinierenden Bilder von ihnen in Sprint und Langlauf, bei Sprung und Wurf und Kugelstoß bestimmen die Wahrnehmung der Leichtathletik, und das wird ihr guttun. Doch das Aufatmen, das Luftanhalten, die Begeisterung werden nichts daran ändern: Es gilt, mehr als das zu schützen, zu bewahren und wiederherzustellen, was wir sehen: Integrität, Fairness, Sauberkeit.

In der kommenden Woche steht in Peking und auf Mattscheiben in aller Welt eine Sportart unter Beobachtung. Sie kann sich keine Skandale und Unglücke mehr leisten. Wer Verantwortung trägt in der Leichtathletik, muss aufpassen, dass ihm nichts entgleitet und er nichts anrichtet. Wie während der Vorläufe am Samstag: Da krachte die Kamera, die auf Schienen neben den Sprintern die Zielgerade hinunter rast, in ein Holzgerüst.

Es entstand ein ansehnlicher Sachschaden. Die demolierten Teile wurden mit einer Plane abgedeckt und für die Dauer der Wettkämpfe liegen gelassen.

Ein Schelm, der an Symbolik denkt.

Michael Reinsch, Peking in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonntag, dem 23. August 2015

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