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08
01
2016

Inklusion - Rollstuhlfahrer und ihre Partner werben für ein Startrecht - Erwin Fladerer in der Bayerischen Laufzeitung ©Bayerische Laufzeitung

Inklusion – Rollstuhlfahrer und ihre Partner werben für ein Startrecht – Erwin Fladerer in der Bayerischen Laufzeitung

By GRR 0

Rollstuhlfahrer treten in vielen Sportarten auf, Höhepunkt ist für die Besten die Teilnahme an den Paralympics, den Olympischen Spielen für Behinderte ganz allgemein. Dabei sind sie meist auf sich allein gestellt und haben nur in besonderen Fällen (Blinde, Gehörlose usw.) eine Begleitung.

Wir kennen Rollis bei Marathonläufen und kürzeren Wettkämpfen im Rennrollstuhl oder im Handbike mit eigenem Handantrieb. Doch was ist mit jenen, die das aufgrund ihrer gesundheitlichen Einschränkung nicht können und eine Schiebehilfe brauchen? Wir dürfen sie nicht vom Sport ausgrenzen! Was uns gesunden Menschen der Sport bedeutet wissen wir allzu gut. Dieses „Runners high“ und die Gemeinschaft unter den Läufern spüren genauso die Menschen im Rollstuhl, die dabei sein dürfen. Mittendrin!

Dafür sorgen sich Eltern und Freunde von behinderten Menschen, die im Rollstuhl sitzen und im Laufgeschehen mitmachen wollen. Weil sie wissen, was es denen bedeutet, die mittendrin sein dürfen. Ob sie dürfen, das hängt meist vom Veranstalter ab. Ein spezielles Regelwerk für „Rollis mit Anschieber“ gibt es nicht.

Verbot oder Sondergenehmigung für Rollis mit Anschieber

Mit einer Genehmigung ist das so eine Sache. Sie hängt vom guten Willen der Veranstalter ab und wird nur im Einzelfall erteilt. In manchen Ausschreibungen wird sogar Stellung bezogen und auf die Wettkampfbedingungen verwiesen: „ Der Lauf findet nach den ALB des DLV statt. Die Nutzung von Kopfhörern und Ohrhörern jeglicher Art während des Laufs ist untersagt und kann zum Ausschluss vom Wettkampf führen. Das Laufen mit Kinderwagen/Baby-Jogger ist aus sicherheitstechnischen Gründen nicht gestattet“.

Von Rollis und Rollis mit Anschieber wird meist gar nicht gesprochen. Von Baby Joggern heutzutage allemal, weil es „in“ ist. Der Sportscheck Lauf in München benennt die Baby-Jogger sogar in der Ausschreibung und bittet sie an das Ende des letzten Startblockes. Damit Behinderungen gerade in der Startphase ausgeschlossen sind. Dass es im Laufe des Wettkampfes zu Überholvorgängen kommt ist ganz normal. Doch hier sind Babyjogger, wenn sie es denn vernünftig machen, keine Hindernisse sondern einfach schneller. Ein Rolli mit Anschieber verhält sich da nicht anders, er braucht vermutlich aber auch hier eine Einzelgenehmigung.

Sind Rollis und Babyjogger zwei verschiedene „Laufgeräte“?

Beide haben einen menschlichen „Antrieb“, einen Anschieber.  Gelten für beide die gleichen Regeln, oder gibt es überhaupt welche? Erwin Schönauer und sein Anschieber Wolfgang Ilg aus Zorneding haben sich schon mehrfach Einzelgenehmigungen eingeholt. Sie finden es auch in Ordnung, am Ende des Feldes zu starten. Aber dabei zu sein, das ist für beide das Höchste. Zum einen ist Wolfgang Ilg selbst ein leidenschaftlicher Läufer, zum anderen bildet er mit seinem Freund und „Bazi“ Erwin Schönauer ein Team, in dem beide sich beim Wettkampf die Freude gegenseitig zuspielen.

Auch wenn es für den Anschieber Wolfgang schon manchmal eine sehr anstrengende Sache war. Ihr Rolli ist kein Rennschlitten, sondern der ganz normale und alltagstaugliche. Ein striktes Verbot von Babyjoggern spricht u.a. der Nürnberger Halbmarathonlauf aus. Meist aber finden sich in den Ausschreibungen gar keine Hinweise auf die Beteiligung von Babyjoggern und Rollis mit Anschieber.  Sollten sich hier die Veranstalter nicht mal Gedanken machen, Inklusion wird doch so groß geschrieben, und doch nicht oft genug praktiziert. Babyjogger sind Mode, und Rollis mit Anschieber?

Mit der Bezeichnung „Es gibt uns“ startete Michael Walcher mit seinem Anschieber beim „Kärnten läuft Viertelmarathon“ und blieben dabei unter einer Stunde 

Das Rolli-Gespann als Lebensmotivation

Während das mitgeführte Kind eigentlich nur die Nähe zur Mama, zum Papa oder zum Spezi im Babyjogger nebenan lustig findet, hat der Behinderte im Rollstuhl wesentlich mehr von der Teilnahme im Wettkampf. Es ist nicht nur der Unterschied zum Alltag, sondern die pure Lebensmotivation. Und wie viele übereinstimmend berichten für beide Seiten des Duos.

Der gemeinsame Lauf am 8. Mai: Wings for Life World Run

Einen ganz direkten Weg und speziell auch an die Adresse der Rollis gerichtet geht der Wings for Life World Run. Die Läufe auf der ganzen Welt sind auch grundsätzlich für Rollstuhlfahrer mit Anschieber zugelassen. Man wirbt sogar zur Teilnahme, denn dieser Lauf von der gemeinnützigen und staatlich anerkannten Stiftung für Rückenmarksforschung setzt sich für die Heilung der Querschnittslähmung ein.

Am 8. Mai 2016 starten Rollstuhlfahrer und Läufer Seite an Seite in ein und demselben Rennen. Die separaten Rollstuhlrennen sind Geschichte. Von nun an starten alle gemeinsam – genau so, wie es sein sollte! Einzige Vorschrift: Die Rollstuhlteilnehmer müssen in Alltagsrollstühlen an den Start gehen. Der offizielle Läufer ist dann die schiebende Begleitperson und hat wie jeder andere die Startnummer mit Zeitmessungs-Chip zu tragen.

Der Wings for Life World Run ist ein globaler Lauf- und Rollstuhl-Event, der am 8. Mai 2016 um exakt 13 Uhr Lokalzeit startet und erst endet, wenn der letzte Läufer vom sogenannten Catcher Car überholt wurde. Auch in München, für alle die laufen aber auch nicht selbst laufen können. Im Olympiapark geht`s los. Für diejenigen, die eingeholt werden, ist der Lauf vorbei. Auch der schnellste muß irgenwann dran glauben, vom Catcher Car eingeholt zu werden. Dennoch gibt es ein gemeinsames Ziel:  100 Prozent der Einnahmen des Wings for Life World Runs fließen direkt an die Wings for Life Stiftung.
 

Ziemlich beste Freunde

Das sind Wolfgang Ilg und Erwin „Bazi“ Schönauer.  Schönauer leidet wie 130.000 Menschen in Deutschland an der unheilbaren Nerven-Krankenheit Multiple Sklerose. 24 Stunden am Tag ist der Münchner auf Unterstützung angewiesen. 

Abwechselnd mit weiteren Pflegern betreut Ilg den 45-Jährigen rund um die Uhr. Trotz Schönauers schwerer Krankheit genießen sie gemeinsame Stunden im Kino, im Biergarten, am See oder im behindertengerechten Klettergarten. 2013 starteten sie erstmals im Rahmen des München-Marathon über die Zehn-Kilometer-Distanz. 2015 standen sie schon am Start des Halbmarathon, diesmal mit einem neuen Rollstuhl, den die Nathalie-Todenhöfer-Stiftung spendierte. 

Für die knapp 21,1 Kilometer hat sich Ilg ein Ziel gesetzt: „2:30 Stunden“! Unterstützung erfuhr das Duo von allen Seiten. „Wir bekommen immer wieder Schulterklopfer“, staunt Ilg. Der Veranstalter meint es gut mit uns und „wir dürfen nur dank einer Sondergenehmigung starten“, betont Ilg und fiebert schon jetzt den letzten Metern entgegen: „Wenn wir ins Stadion einlaufen wird es laut, der Sprecher  kündigt uns extra an. Das ist Gänsehautfeeling.“

Schönauer hat nicht nur wegen des Trainingspensums höchsten Respekt vor seinem Freund: „Wolfgang schwitzt, ich mache nur einen guten Eindruck.“ Doch das lässt Ilg so nicht stehen: „Bazi sollte seine Rolle nicht unterschätzen. Er hat trotz seiner Krankheit eine total positive Ausstrahlung, jammert nie, seine Augen strahlen. Das ist echt bewundernswert.“

Und spornt Ilg Tag für Tag an. So sehr, dass die Ansprüche für 2016 nochmal hochgeschraubt werden: Für nächstes Jahr steht der Berlin-Marathon auf der Agenda des Duos. Dann dürfen auch die Hauptstädter „Ziemlich beste Freunde“ kennenlernen und staunen.

Michael und Nico Hübner erfahren viel Positives  und sind schon beinahe Profis als Gespann auf den Laufstrecken.

Besonders in Franken sind sie nicht wegzudenken, haben aber auch kaum Probleme, starten zu dürfen. Sie erfuhren bislang überwiegend Positives, sowohl von Veranstalterseite, vor allem aber von den Läuferinnen und Läufern. „Nico ist so glücklich, wenn wir am Start sind“, sagt Vater Michael, der für seinen geistig und körperlich behinderten Sohn wie ein Weltmeister läuft.

An mehr als zehn Wettkämpfen haben die Bayreuther 2015 teilgenommen, darunter zwei Halbmarathonläufe. Zwei Stunden und zehn Minuten war die Klassezeit beim Münchner Halbmarathon. Und immer wieder sieht man den beiden an, was es für sie bedeutet dabei sein zu dürfen.
               
Bewegungskonzept „Roll-Walking“

Im Haus Hildegard von Bingen in Regensburg freuen sich mittlerweile alle, wenn wieder gewalkt wird. Der „Roll-Walking-Kurs“ ist ein innovatives Bewegungs- und flexibles Trainingskonzept. Es wurde von Dipl. Sportlehrer Christoph Schmidt mit Unterstützung von Dr. Frank Möckel, Institut für Prävention und Sportmedizin (IPS) entwickelt und ist für jede Altersgruppe geeignet. Hier trainieren Menschen mit und ohne Behinderung spielerisch ihre Motorik.

Durch vier verschiedene Schiebevarianten ist dieses Training für Walker und Läufer sehr effektiv, da die gesamte Motorik gestärkt wird. Teamarbeit und soziales Engagement werden auf spielerische Weise gefördert und es findet eine Stärkung des Gefühls statt. Die Stimmen von Walkern und Läufern, die mit ihren Behinderten diesen Sport betreiben, gleichen sich:  „Ich habe nicht nur etwas Gutes für mich, sondern auch für andere getan!“

„Die strahlenden und lachenden Gesichter der Rolli-Fahrer während des Laufes  durch die Natur, den Wind zu spüren, motiviert mich Sport zu treiben und gibt mir das tolle Gefühl, etwas wirklich wertvolles zu tun“, so ein Läufer, der nach den ersten  sechs Einheiten und einer 14 tägigen Ferienpause mit Freude das Roll-Walking  Projekt weiterhin unterstützen will. Außerhalb jedoch erfährt Schmidt eine ablehnende Haltung, wenn sie bei einer Veranstaltung „mitrollen“ möchten.

„Da kommt die pure Abneigung, …es könnte ja, ….und überhaupt“, bekommt der Dipl. Sportlehrer oft zu hören, und meint damit auch, dass Vereine und Veranstalter über derartige Teilnehmer nicht vorbereitet sind.

Pole Wheeling, die Rollstuhlvariante des Nordic Walkings

Hier werden in der Länge angepasste Stöcke (poles) verwendet, um den Rollstuhl anzutreiben. Mit den Stöcken stößt man sich selbst und den Rollstuhl vom Boden ab. Mit der richtigen Technik bietet das Pole Wheeling u. a. ein effektives Muskel- und Herz-Kreislauftraining. Und es müssen auch keine Kunststücke vollbracht werden, wie sie Deutschland`s einziger professioneller „Chairskater“ David Lebuser macht.

Der 26-jährige vollbringt außergewöhnliche Balance-Akte und Stunts. „Sein Freund ist der Rollstuhl“ und er gibt zu, dass sein Leben ein anderes, aber kein besseres wäre, wenn er noch laufen könnte.

In kleinen Schritten übt sich das Pole Wheeling, das Training wirkt prophylaktisch gegen:
Osteoporose
Herz-Kreislauf-Krankheiten
Bluthochdruck
Depressive Verstimmungen
Gelenk-, Rücken- und Schulterschmerzen
Übergewicht

Wie verhalten sich die Veranstalter? Ein Zeichen ist gefragt!

Was werden Veranstalter tun, wenn sich ein Rolli mit Stöcken anmelden will? Ist er Rollstuhlfahrer oder Walker? Und letztlich darf es keinen Unterschied zwischen Babyjoggern und Rollis mit Anschieber geben. Sie zu integrieren ist bei den einen schon gern gesehene Mode, bei den anderen noch Stolperstein.

Sie zu integrieren sollte aber in der heutigen Zeit eine Selbstverständlichkeit sein. Es geht, wenn der Veranstalter will, das Rolli-Duo die Spielregeln beachtet, auch mitten unter den Läufern!

Erwin Fladerer, Bayerische Laufzeitung 2016

Die Bayerische Laufzeitung

             

                             

 

author: GRR

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