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11
05
2016

Minolta DSC

Sie träumen von einem besseren Leben – Die jungen Läuferinnen und Läufer trainieren in Kenia nicht für Ruhm oder Medaillen, sondern für ein besseres Leben und eine bessere Zukunft. Jürg Wirz in LAUFZEIT&CONDITION

By GRR 0

Die Schritte der Läufer trommeln über die rotbraune, holprige 400-Meter-Bahn in Kamariny ausserhalb von Iten. Gleichförmig wie der Regen, wenn er im kenianischen Hochland auf die Wellblechdächer niederprasselt.

In mehreren kleinen Gruppen rennen sie sich unter den Augen von Brother Colm O'Connell, dem 67-jährigen Laufcoach, die Seele aus dem Leib. Einer davon ist Alfred Barkach, ein 19-Jähriger. Die Hoffnung auf ein besseres Leben treibt ihn an.

Schon vor zwei Jahren ist Alfred O'Connels Talentspähern aufgefallen.

Und so erhielt er eine Einladung fürs vierwöchige Dezember-Camp. Jetzt ist er erneut dabei und schwärmt: „Es ist fantastisch. Das Essen, die Unterkunft, das Training – einfach alles." Nur ein kleines Problem hat er: Er spürt den Höhenunterschied. Iten liegt auf 2400 m über Meer, die Kabusa Sub-Location im Baringo-Bezirk, wo er zu Hause ist, auf kaum 1000 Meter.

„An den ersten Tagen hatte ich Mühe beim Atmen und auch die kalten Nächte war ich nicht gewohnt. Doch ich sagte mir: Da musst du durch." Er lacht. Es ist das Lachen eines Jungen, der seinen Weg vorgezeichnet hat. Und der sich auch nicht daran stört, dass die meisten anderen Talente aus Gegenden im Rift Valley stammen, wo die Voraussetzungen für einen Läufer bedeutend besser sind.

Am Ende der Welt

Szenenwechsel. Es ist Montagmorgen. Treffpunkt mit Alfred Barkach ist an der Kenol-Tankstelle in Kabarnet, Hauptort des Baringo-Bezirks. Von hier will mich Alfred zu seinem Wohnort lotsen, der auf keiner Karte eingetragen ist. Bevor wir losfahren, fragt er mich, ob ich nicht etwas fürs Mittagessen einkaufen will. Ich überlege kurz, denke, dass er vielleicht annimmt, ich hätte Mühe mit dem kenianischen Essen und sage dann: Ich brauche bloss etwas Mineralwasser, denn der Talkessel ist berühmt-berüchtigt: eine Halbwüste, stets über 30 Grad und oft mehr als ein Jahr lang ohne Regen.

Zuerst geht's auf einer guten Strasse eine Stunde lang in Richtung Marigat, der Strasse, die auch zum Baringo-See führt. Bei einem kleinen Zentrum verlassen wir die Hauptstrasse und biegen nach links ab – ins Niemandsland. „Nur etwa 15 Kilometer", sagt Alfred, der Läufer. Er kennt diese Strecke sehr genau, weil er sie immer wieder im Training zurücklegt, wie auch an diesem Morgen, um einen der meist überfüllten Kleinbusse nach Kabarnet zu kriegen.

„Wir brauchen sicher eine Stunde", sagt er dann, und ich denke, er verwechsle die Autofahrt womöglich mit seinen Trainingsläufen, behalte das aber für mich.

Und das ist auch gut so, denn was mich hier erwartet, hat mit einer Strasse nichts zu tun. Wir durchqueren ein ausgetrocknetes Bachbett nach dem anderen, es geht rauf und runter, Steinbrocken, die zum Teil weggeräumt werden müssen, damit wir nicht stecken bleiben. Dann endlich ist es geschafft: Ein paar Minuten noch quer durch eine savannenartige Landschaft und dann halten wir an.

Die letzten paar hundert Meter legen wir zu Fuss zurück, über kleine Trampelpfade, vorbei an Dorngestrüpp, Kakteen und schirmförmigen Akazien. In der Ferne ein paar blökende Ziegen auf der Suche nach etwas Essbarem. Die Sonne brennt unbarmherzig. Ich frage mich, wie diese Gegend einen Läufer hervorbringen kann. Es ist ein Wunder.

Hoffnungsträger für die ganze Dorfgemeinschaft

Wir werden erwartet. Zwischen 20 und 30 Menschen sind gekommen, um den Gast willkommen zu heissen. Zum Teil haben sie mehrere Stunden zu Fuss zurückgelegt. Nun sitzen sie in zwei Gruppen auf dem Boden: auf der einen Seite die Männer, auf die anderen die Frauen. Ich werde zu den Dorfältesten geführt und jedem Einzelnen vorgestellt. Und dann erhebt sich einer, der sich als „Vater Angela" vorstellt und beginnt mit der Begrüssung:

„Heute ist ein besonderer Tag, weil Alfred den ersten weissen Mann zu uns gebracht hat. Wir sehen die Weissen sonst nur auf der Strasse vorbeirasen. Wir haben nichts zu bieten. Wir sind sehr arm. Die meiste Zeit essen wir, was wir gerade finden: kleine Früchte von Bäumen und Sträuchern. Das Wasser schleppen wir von einem zehn Kilometer entfernten Fluss in Kanistern heran. Die paar Ziegen sind unser einzigen Einkommen. Das Leben ist sehr hart, aber jetzt haben wir Alfred. Wir setzen grosse Hoffnungen in ihn. Wenn er erfolgreich ist, wird die ganze Dorfgemeinschaft profitieren."

Als zweiter Redner ist Alfreds Vater Daniel Lumet Barkach an der Reihe.

Er spricht nur den lokalen Tugen-Dialekt und wird übersetzt. „Der Besucher kam wegen Alfred. Jetzt, da er hier ist, heissen wir ihn herzlich willkommen", beginnt er und fährt dann fort: „Was immer er uns zu sagen hat, wir werden seine Ratschläge entgegennehmen und mit ihm teilen. Alfred liebte das Laufen schon als kleines Kind. Wenn es irgendwo etwas zu besorgen galt, schickten wir ihn, denn wir wussten, er würde sehr schnell wieder zurück sein. Er war es auch, der nach den Ziegen schaute und sie am Abend zurückbrachte. Wir beten, dass Alfred immer weiter läuft, bis er den Rekord hat. Welcome and welcome again another time."

Nach dem Vater gibt's auch eine Begrüssung von Alfred, der Mutter und dann betet der Pfarrer.

Die Zeit verstreicht. Wenn die Menschen hier etwas im Überfluss haben, dann ist es Zeit. Inzwischen ist mir auch klar, warum mich Alfred in Kabarnet gefragt hatte, ob ich etwas zu essen mitnehmen will. Es gibt nichts. Nicht einmal den sonst üblichen „Chai", mit halb Wasser und halb Milch und viel Zucker aufgekochter Tee. Wer nichts hat, kann auch nichts geben. Wer in einer solchen Gegend lebt und den Traum hat, ein erfolgreicher Läufer zu werden, geht es mir durch den Kopf, verfügt über einen unglaublichen Willen und eine aussergewöhnliche Leidenschaft. Wenn es einer verdient, ein ganz Grosser zu werden, dann dieser 19-jährige Alfred Barkach.

Ein grosses Vorbild: Paul Tergat

Nachdem auch ich meinen Speech gehalten habe, kann ich mich endlich mit Alfred zurückziehen. Wir setzen uns unter einen Akazienbaum. Wir reden über ihn und seine Träume. Dabei wird sofort klar: Es geht ihm nicht um Ruhm und Medaillen.

„Meine Eltern gingen nie zur Schule. Meine drei Geschwister haben nur ein paar Jahre Grundschule hinter sich. Ich bin der Einzige, der dank der finanziellen Unterstützung der Kommune eine höhere Schule besuchen konnte. Ihnen allen will ich zu einem besseren Leben verhelfen. Das ist meine Motivation. Das treibt mich an." Und nachdem er kurz überlegt hat, sagt er noch: „Es hilft nichts, sich zu beklagen. Ich will aus diesem Teufelskreis ausbrechen."

Nicht viele Läufer kamen und kommen aus diesem Bezirk. Aber einer der erfolgreichsten Kenianer aller Zeiten ist ebenfalls ein Tugen: Paul Tergat, der fünffache Cross-Weltmeister, der im Laufe seiner grossen Karriere auch Weltrekorde über 10 000 Meter, im Halbmarathon und Marathon verbessert hat.

Alfreds Augen beginnen zu leuchten, wenn er auf Tergat angesprochen wird. „Als Junge hörte ich sehr viel von ihm. Er ist mein grosses Vorbild, mein persönlicher Held. Ich wollte immer so werden wie er." Er wisse, dass der Weg noch weit sei, aber er sei überzeugt, dass er es schaffen werde.

Die Sonne brennt nicht mehr so intensiv, als wir uns auf die beschwerliche Fahrt zurück zur Hauptstrasse begeben. Wieder durch unzählige ausgetrocknete Bachbetten, wieder im Schritttempo. Alfred wird zurücklaufen, so schnell wie das Auto. Bevor er losläuft, isst er zwei Bananen und trinkt etwas Wasser, sein verspätetes Mittagessen. Ich fahre zurück nach Kabarnet, von dort ins Kerio Valley hinunter und wieder hinauf, bis ich Iten und dann Eldoret erreiche.

Nachtrag: Wenige Wochen nach meinem Besuch gewann Alfred Barkach die 10 000 Meter an den nationalen „High School-Meisterschaften" und wurde auch erstmals für einen Vergleichswettkampf nach Tansania aufgeboten, wo er ebenfalls siegte. Inzwischen hat er die Schule beendet und lebt in Iten, väterlich umsorgt von Brother Colm und dessen Assistenten Ian Kiprono.

Schon bald soll es ins Camp von Michel Boeting gehen. Der Holländer hat mit Alfred bereits einen Vertrag abgeschlossen. Die Chancen, dass sich Alfreds Traum erfüllt, stehen gut.

Seit 26 Jahren Nachwuchscamps

Seit 1989 führt der legendäre irische Coach Brother Colm O'Connell in der kenianischen Kleinstadt Iten jedes Jahr zwei vierwöchige Trainingslager für Nachwuchsläufer durch: eines im Dezember zur Vorbereitung der Crosssaison und eines im April vor den Bahnevents.

Ende der neunziger Jahre hatte das Camp bis zu hundert Teilnehmer. „Der britische Manager Kim McDonald half uns damals mit Finanzen und Equipment", blendet O'Connell zurück.

„Nach seinem plötzlichen Tod 2001 mussten wir ein paar Jahre unten durch. Inzwischen sind wir bewusst etwas selektiver geworden. Wir wählen Läuferinnen und Läufer aus, die nicht nur Talent haben, sondern die uns auch charakterlich überzeugen, jedes Mal etwa 50."

Die Mädchen und Jungs leben in der St. Patrick's-Schule und trainieren in der Umgebung. Unterstützt wird das Camp hauptsächlich von Adidas.

Am Ende gehen alle mit einem Rahmentrainingsplan nach Hause. Sie werden weiterhin beobachtet und über die Sportlehrer betreut. O'Connells Camp ist zwar nicht mehr das einzige im Land, aber es ist das älteste und bestimmt auch jenes, das am meisten Topathleten hervorgebracht hat.

Zuletzt auch einen gewissen David Rudisha.

Jürg Wirz in LAUFZEIT&CONDITION 4/2016

 

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