2013 IAAF World Outdoor Championships Moscow, Russia, August 10-18 2013 Photo: Giancarlo Colombo@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-741-1865 www.photorun.NET
Die schnellste Familie der Welt – Die Dibaba-Schwestern – Äthiopiens Golden Girls – Jürg Wirz
Es könnte das spartanische Leben sein oder vielleicht die dünne Höhenluft auf 3000 Meter über Meer – oder der Einfluss des legendären Coaches Sentayehu Eshetu. Jedenfalls hat Bekoji, die Kleinstadt mit weniger als 20 000 Einwohnern 270 Kilometer südlich von Addis Abeba, in Relation zur Einwohnerzahl weit mehr Weltklasseläufer hervorgebracht als jede andere Stadt auf dieser Welt.
Die Liste liest sich fast wie das "Who's who" des äthiopischen Langstreckenlaufs: Deratu Tulu, Fatuma Roba, Tiki Gelana, Kenenisa und Tariku Bekele – und die Dibaba-Schwestern sind hier oder in unmittelbarer Nähe aufgewachsen und zu Läufern geworden. Und der grosse Haile Gebrselassie lebte keine 60 Kilometer entfernt.
Bekoji. Ausserhalb der Hütte, die aussieht wie ein Geräteschuppen, befindet sich eine Tafel mit von Hand aufgemalten Regeln und Vorschriften:
"Die Athleten müssen hart trainieren, einander respektieren, als Team zusammenarbeiten und das Heimatland ehren."
Oben auf der Tafel die äthiopische Nationalflagge, die Fahne der Region Oromia und die olympischen Ringe. Hier befindet sich das Büro von Sentayehu Eshetu, von allen nur "Coach" genannt. Innen ist es düster und staubig. Die Wände sind vollgepflastert mit Fotografien und Zeitungsausschnitten: Zeugen der sportlichen Erfolge, die hier in Bekoji ihren Anfang nahmen.
"Coach" war Sportlehrer an einer Grundschule.
Er versuchte, die Schüler fürs Laufen zu begeistern, obwohl er selbst nie Läufer war, sondern ein Fussballer. Und er begann immer mehr Läufer zu trainieren. Das erste ganz grosse Highlight erlebte er 1992, als Derartu Tulu an den Olympischen Spielen in Barcelona als erste Afrikanerin Gold über 10.000 m gewann.
"Ich schaute mir das Rennen mit meinen Schülern am Fernsehen an. Als Derartu gewann, konnte ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Da wussten sie, dass ich es war, der Derartu trainiert hatte. Danach schlossen sich immer mehr Jugendliche meiner Trainingsgruppe an. Viele Eltern wollten, dass ich aus ihren Kindern Olympiasieger mache. Aber so einfach ist das nicht. Es braucht dazu viel Talent, Hingabe und Geduld." Inzwischen ist "Coach" 59 Jahre alt und Profi-Trainer – für umgerechnet 100 Euro im Monat, bezahlt vom Staat.
Im Stadion – mit einer Rundbahn, die zum Teil mit Gras überwachsen ist – und in der nahen Umgebung gehen die künftigen Olympiasieger und Weltmeister durch ein hartes Trainingsregime. Bevor sie so weit sind, verlassen sie allerdings Bekoji und gehen in die Hauptstadt, weil dort die Trainingsbedingungen besser sind und es Firmenklubs gibt, welche die Läufer unter Vertrag nehmen und sie an die Manager verhökern. Auf die Frage, ob er es nicht bedaure, dass nur die anderen das grosse Geld machen, sagt "Coach": "Nein. Meine Belohnung ist, wenn ich meine Kinder siegen sehe."
Derartu Tulu ist die Cousine
Derartu Tulu hatte nicht nur einen Einfluss auf Sentayehu Eshetus Leben, sondern auch auf das der Dibabas. Denn sie ist die Cousine. So ist es nicht verwunderlich, dass die zehn Jahre jüngere Ejegayehu als erste der Dibaba-Sisters eine internationale Läuferin wurde. Sie gewann 2004 in Athen Olympiasilber und ein Jahr später zwei WM-Medaillen. Doch da war auch Tirunesh bereits ein vielversprechendes Talent.
Und das kam so: 1999, als 14-Jährige, reiste sie in die Hauptstadt. Es war geplant, dass sie mit Schwester Ejegayu und Cousine Bekelu wohnt und ihre Ausbildung an einer Mittelschule fortsetzt. Aber sie verpasste den letzter Termin für die Einschreibung um sechs Tage. Was nun? Zurück nach Bekoji wollte sie nicht, weil sie fürchtete, die Eltern würden sie in eine frühe Heirat zwingen, wie das im ländlichen Äthiopien üblich war. Also blieb sie in Addis.
Mit der Hilfe von Bekelu wurde Tirunesh schliesslich in den Sportklub der Gefängnis-Polizei aufgenommen.
Und dann ging alles sehr schnell. Sie war noch keine 17, als sie an der Cross-WM in Dublin im Rennen der Juniorinnen Silber holte, ein Jahr später gewann sie in Paris mit 17 Jahren und 333 Tagen als jüngste Weltmeisterin die 5.000 m, und vor ihrem 20. Geburtstag war sie die erste Frau, die an einer WM Doppelsiegerin über 5.000 und 10.000 m wurde. Inzwischen sind 14 WM- und fünf Olympiamedaillen zusammengekommen, davon dreizehn in Gold! Dazu sieben Weltrekorde und eine Weltbestleistung über 5 Kilometer auf der Strasse. Seit 2005 blieb die Super-Athletin mit dem Engelsgesicht ("The Baby Face Destroyer") in elf Rennen über 10.000 m ungeschlagen.
Von der Läuferin zur Geschäftsfrau
Im April 2014 wurde Tirunesh Dibaba in ihrem ersten Marathon in London Dritte in 2:20:35 h. Zum Herbstmarathon in Chicago oder New York kam es nicht, weil sie inzwischen schwanger war. Im letzten März kam ihr Sohn zur Welt – standesgemäss in einem Privatspital in der ostamerikanischen Stadt Atlanta. Denn Tirunesh Dibaba ist nicht einfach eine schnelle Läuferin, sie ist Äthiopiens erfolgreichste Athletin aller Zeiten, bewundert und verehrt, das Pendant zu Haile Gebrselassie.
Sie ist zwar nicht wie er ein Tycoon mit einem Vermögen von über 50 Millionen Dollar, aber bei ihr hat sich im Laufe der Jahre auch einiges angehäuft. Mit ihrem Geld hat sie ein elfstöckiges Geschäftshaus gebaut und für zwei Millionen Dollar ein Fünf-Sterne-Hotel. Und ein feudales Haus, in dem auch die jüngeren Schwestern Genzebe und Anna leben. Wie gross ihr Ansehen in Äthiopien ist, zeigt die Tatsache, dass ihr die Universität von Addis Abeba ein Ehrendoktorat verliehen hat und ein Krankenhaus nach ihr benannt ist.
Und dann die Hochzeit im Oktober 2008 mit Sileshi Sihine, selbst ein zweifacher Olympia-Silbermedaillengewinner!
So etwas hatte es in Äthiopien noch nie gegeben. Sie nannten sie die Hochzeit des Jahrtausend – in Anlehnung an die "Millenium Celebration", die in Äthiopien nach dem koptischen Kalender mit siebenjähriger Verspätung gefeiert wurde. Die Hochzeitskleider hatten Tirunesh und Sileshi in Mailand eingekauft; alles war vom Allerfeinesten. Die verschiedenen Feiern und Empfänge dauerten zehn Tage.
Der Hochzeits-Marathon begann am 21. Oktober im Rathaus mit dem offiziellen Versprechen. Am 23. Oktober sandte Sileshi seine Leute, wie das in Äthiopien üblich ist, mit dem Brautpreis und verschiedenen Geschenken zu Tiruneshs Eltern Dibaba Keneni und Gutu Tola – damit sie auch wirklich bereit waren, die Tochter wegzugeben.
Am 26. Oktober fand die eigentliche Hochzeit statt: Am Morgen machte sich der Brätigam mit seiner Entourage in Stretchlimousinen zur Residenz seiner Braut auf. Nach dem Mittagessen im Hilton begab sich das Paar in einer Kutsche zum Meskel-Square, wo es gemäss äthiopischen Berichten von gegen 500 000 Menschen erwartet und gefeiert wurde.
Für das grosse Fest im Sheraton waren tausend Gäste geladen, darunter auch Regierungsvertreter und Botschafter. Am 27. Oktober gab Staatspräsident Girma Woldegiorgis ein Essen für das frisch vermählte Paar. Am 28. Oktober war Schwester Ejegayehu in ihrem Haus in Addis Abeba an der Reihe, und zum Abschluss empfing Sihines Familie Tiruneshs Freunde und Verwandte.
Zur Überraschung tauchte auch Haile Gebrselassie auf, obwohl er eigentlich an einem Marathon in Istanbul hätte laufen sollen. Sechs Events innerhalb von zehn Tagen – da braucht es schon die Ausdauer von Weltklasseläufern.
Nach Tirunesh kam Genzebe
Tirunesh Dibaba spricht davon, in Rio um Olympiagold über 10.000 m laufen zu wollen – es wäre ihr drittes in Serie -, aber in der Zwischenzeit ist die sechs Jahre jüngere Genzebe bereits aus ihrem Schatten getreten. Die 24-Jährige war als Juniorin zweimal Weltmeisterin im Cross und einmal über 5.000 m, im März 2012 holte sie sich Hallen-WM-Gold über 1.500 m.
Als sie sich danach der Trainingsgruppe von Jama Aden anschloss, erreichte ihre Karriere eine neue Dimension. Aden, in Somalia geboren und mit einem Masters in Trainingswissenschaft von der George Mason University in Fairfax (Virginia) ausgestattet, ist der Nationaltrainer von Katar. Jedes Jahr verbringt er mit seinen Athleten mehrere Monate in der äthiopischen Hauptstadt und auch in Spanien.
Dort platzte am 20 Juni die Bombe: Aden wurde von der spanischen Polizei festgenommen. In einem Hotel in Sabadell bei Barcelona, wo er mit seinen Athleten logierte, wurden verschiedene Dopingsubstanzen gefunden, darunter EPO und anabole Steroide. IAAF-Kontrolleure testeten gleichzetig mehr als 20 Athleten.
Zu Adens Schützlingen gehören neben Genzebe Dibaba auch Ayanleh Souleiman (WR 1000 m) und Abubaker Kaki, der zweifache Hallen-Weltmeister über 800 m. Und er trainierte auch Taoufik Makhloufi, den algerischen 1500-m-Olympiasieger von London.
Aber auch Mo Farah und Tirunesh Dibaba werden Kontakte zum somalischen „Wundercoach" nachgesagt. Genzebe Dibaba sagt über das Training von „Uncle Jama", wie sie ihn nennt: „Sein Training ist sehr, sehr hart. Oft schaffe ich es fast nicht bis zum Ende." Doch plötzlich steht auch hinter ihren grandiosen Zeiten ein ganz grosses Fragezeichen: hinter den drei Hallen-Weltrekorden über 1500 m, 3000 m und zwei Meilen im Februar 2014 und jenem ein Jahr später über 5000 m. Und ganz besonders hinter dem Meisterstück, das ihr beim Diamond Laegue-Meeting am 17. Juli des letzten Jahres in Monaco gelang, wo sie den 1500-m-Weltrekord der Chinesin Yunxia Qu aus dem Jahre 1993 um 0,39 Sekunden auf 3:50,07 min verbesserte.
Coach Ma Junren hatte damals nicht nur mit Schldkrötenblut, sondern auch mit EPO nachgeholfen. Jama Aden darf seit der Razzia im Hotel Spanien nicht verlassen.
Die Jüngsten folgen bereits
Bei der IAAF-Gala 2014 in Monaco erschien plötzlich eine neue Dibaba. Die jetzt 19-jährige Anna konzentrierte sich bis jetzt auf die Schule und hat erst im letzten Jahr mit Lauftraining begonnen. Sie spricht als einzige der Dibaba-Sisters gut Englisch und half Genzebe als Übersetzerin. Aber sie imponierte nicht nur deshalb. Ein Beobachter schrieb danach auf der Internet-Plattform "LetsRun.com": "Unglaublich: Jede jüngere Schwester sieht besser aus als die ältere – und Tirunesh war bereits umwerfend. Schade, dass die Eltern nicht weiter gemacht haben." Ihm und anderen sei gesagt: Es gibt noch eine jüngere Schwester, die 17-jährige Melat.
Die Dibaba-Sisters, aufgewachsen auf dem Land in einer Hütte ohne Wasser und Strom, sind heute Äthiopiens Glamourgirls.
Selbst das US-Mode- und Lifestyle-Magazin Vogue hat der schnellsten Familie auf dem Planeten in der April-Ausgabe einen grossen Beitrag gewidmet. Darin verrieten Tirunesh und Genzebe zum Beispiel, dass das In-Lokal "Yod Abyssinia" in Addis ihr Lieblings-Restaurant sei und dass sie vor allem auf Kleider von Michael Kors (Tirunesh) und Zara (Genzebe) stehen. Und bei der Musik auf Michael Jackson bzw. Beyoncé. Ein weiter Weg von Bekoji.
Äthiopiens Golden Girls Ejegayehu, Tirunesh und Genzebe Dibaba haben 30 Olympia- und WM-Medaillen gewonnen – und ein Ende ist nicht in Sicht. In Rio soll das Sammeln weitergehen.
Die Dibabas
Ejegayehu
Geboren am 21. März 1982, verheiratet mit dem äthiopischen Sänger Qemer Yusuf, Mutter eines zweijährigen Mädchens
OS: 2. 10.000 m 2004.
WM: 3. 5.000 m und 10.000 m 2005
Tirunesh
Geboren am 1. Juni 1985, verheiratet mit Seleshi Sihine (OS-2. 10 000 m 2004 und 2008), seit Ende März 2015 Mutter von Natan Seleshi
OS: 1. 5.000 m und 10.000 m (2008), 1. 10.000 m (2012), 3. 5.000 m (2004 und 2012).
WM: 1. 5.000 m (2003), 1. 5.000 m und 10.000 m (2005), 1. 10.000 m (2007 und 2013)
Cross-WM: 1. Juniorinnen (2003), 2. Juniorinnen (2002), 1. (2005, 2006 und 2008), 2. (2007), 1. Kurz-Cross (2005) und 2. Kurz-Cross (2004).
Junioren-WM: 2. 5.000 m (2002).
WR: 5.000 m (14:11,15), 5.000 m Halle (14:32,97 und 14:27,42), Juniorinnen 5.000 m (14:39,94 und 14:30,88), Juniorinnen 3.000 m Halle (8:33,56) und 5.000 m Halle (14:53,99), 5 km Straße (14:51)
Genzebe
Geboren am 8. Februar 1991
WM: 1. 1.500 m und 3. 5.000 m (2015)
Hallen-WM: 1. 1.500 m (2012 und 2014), 1. 3.000 m (2016).
Cross-WM: 1. Juniorinnen (2008 und 2009).
Junioren-WM: 1. 5.000 m (2010), 2. 5.000 m (2008)
WR: 1.500 m (3:50,07), 1.500 m Halle (3:55,17), 1 Meile Halle (4:13,31), 3.000 m Halle (8:16,60), 2 Meilen Halle (9:00,48), 5.000 m Halle (14:18,86)
OS = Olympische Spiele, WM = Weltmeisterschaften, WR = Weltrekord
Jürg Wirz in LAUFZEIT&CONDITION – 7+ 8/2016
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