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01
09
2024

Wenigstens die Trophäe von Lückenkemper sollte allerdings einen Goldrand bekommen. 9,89 Sekunden für ihren Kurvenlauf- 2017 World Championships-London London, UK August 4-13, 2017 Photo: Victah Sailer

Der Glanz von Gold – Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye gewinnt den einzigen Titel der deutschen Leichtathleten. Für eine der vier Medaillen sorgt die famose 4×100-Meter-Staffel der Frauen. Michael Reinsch, Paris 2024 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung – Nachschlag-

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Zehn Jahre währte ihr Anlauf zu diesem Erfolg, und entsprechend genossen sie ihn: Flaggen schwenkend und strahlend vor Glück, machten sich Gina Lückenkemper, Alexandra Burghardt, Lisa Mayer und Rebekka Haase auf zu einer zweiten Runde durchs Stade de France.

Sie nahmen sich die Zeit, gemeinsam mit Freunden, Familien und Fans zu jubeln, und schließlich ließen sie sich auf einem Fleckchen Grün nahe dem Start nieder. Sie schauten sich das Staffelrennen der Männer an. Vor allem aber wollten sie für sich sein, bei sich. Wo anders sollte das bei Olympischen Spielen möglich sein als im Mittelpunkt des mit 77.000 Zuschauern gefüllten Stadions, im Auge des Orkans?

Sie hatten ihre Mission erfüllt. Ihre Staffel war gelaufen wie eine Präzisionsmaschine. Bei den Wechseln hatten sie alles ausgereizt, und Gina Lückenkemper erwies sich – ausgerechnet in der Kurve – als die schnellste Läuferin von allen im Wettbewerb. Endlich: eine Medaille gewonnen bei Olympischen Spielen. Bei der Siegerehrung würden sie die aus Bronze bekommen, und durchs Stadion würde die Hymne der Vereinigten Staaten schmettern. Doch für sie hat dieser Erfolg den Glanz von Gold.

Für die wirkliche Goldmedaille, die einzige des deutschen Teams in der Leichtathletik, sorgte Yemisi Ogunleye.

Vor zehn Jahren, als sich die Sprinterinnen in die Hand versprachen, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, war sie noch auf der Suche, besser: Sie irrte durch ihr Leben. Sie wusste, dass sie den Sport brauchte. Aus dem Turnen war sie herausgewachsen; dort hatte sie zum ersten Mal gespürt, dass sie etwas konnte, das anderen Mädchen und Jungen schwerfiel oder unmöglich war.

Sie, die damals schon die anderen mit ihrer Länge überragte und schließlich 1,85 Meter groß werden würde, die in der Schule wegen ihrer Hautfarbe beleidigt und gemobbt wurde, hatte die Leichtathletik entdeckt. Doch das Knie machte nicht mit. Zweimal verletzte sie sich schwer, gab den Siebenkampf auf, wechselte zum Kugelstoßen und musste doch wieder operiert werden. Dann fand sie Gott. „Mein Glaube gibt mir die Gewissheit, dass Gott einen Plan hat für mich“, ist sie überzeugt.

Vor ihrem letzten Stoß am Freitagabend, bevor sie aus einer Drehung heraus die Eisenkugel auf exakt zwanzig Meter katapultierte und damit Weltmeisterin Maddison-Lee Wesche von Platz eins verdrängte (19,86 Meter), hob sie die Hände und betete. Als sie gesiegt hatte, fiel sie auf die Knie und dankte Jesus. In der Pressekonferenz angesprochen auf ihren Glauben, sang sie den Gospel „I Almost Let Go“, ich hätte fast aufgegeben. Mag sein, dass sie nun, da sie den bedeutendsten Sieg errungen hat, den es in ihrem Sport gibt, immer noch die Leichtathletik braucht.

Ganz gewiss aber braucht die deutsche Leichtathletik sie. Nach der Silbermedaille von der Hallen-Weltmeisterschaft in Glasgow und Bronze von der Europameisterschaft in Rom ist dies der dritte internationale Erfolg der Fünfundzwanzigjährigen in diesem Jahr, die vierte und gewichtigste Medaille in einem Verband, dessen Mannschaft 2023 ohne eine einzige Medaille von der Weltmeisterschaft in Budapest heimkehrte.

Weite Stöße mit der sehr individuell geprägten Drehstoßtechnik wecken immer ein wenig den Eindruck vom Lucky Punch, einem Glückstreffer. Doch schon in der Qualifikation war sie eine von nur drei unter 31 Bewerberinnen, die 19 Meter übertrafen. Im Wettkampf überbot sie ihre erste Weite von 19,55 Metern bei vier Versuchen zweimal. Es wirkte, als könnte man ihr dabei zusehen, wie sie besser wird.

Wie der Zehnkämpfer Leo Neugebauer, der zum Auftakt der Leichtathletik-Wettbewerbe eine Silbermedaille gewann, hat sie enormes Entwicklungspotential allein durch die Verbesserung ihrer Technik. Dieses Versprechen wird im Leistungssport schnell zur Verpflichtung. „Sie kann eine ganz Große werden“, kommentierte leichthin der Dreispringer Max Heß. Und aus Neubrandenburg urteilte Astrid Kumbernuss, Kugelstoß-Olympiasiegerin von Atlanta 1996: „Da kommt noch ganz viel. Nächstes Jahr ist wieder eine WM, und die nächsten Olympischen Spiele kommen schneller, als man denkt. Sie ist noch jung.“

Ogunleye wird damit umgehen können. Sie hat sich von ihrem Beruf als Sonderpädagogin verabschiedet und ist, mit dem Sold der Bundeswehr, professionelle Kugelstoßerin geworden.

Sie teilt den Eindruck vom Potential, schließlich lernst sie erst seit dreieinhalb Jahren die Drehstoßtechnik. Vom sportlichen Erfolg will sie gleichwohl nicht abhängig sein. „Sicher ist der Anspruch an mich selbst, beim Saisonhöhepunkt Bestleistung zu bringen“, sagt sie: „Irgendwann wird das richtig schwer.“ Andererseits hat sie die Erfahrung der Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr, als sie Zehnte wurde, gelehrt, sich den Erwartungen anderer nicht auszusetzen. „Ich konzentriere mich auf den kleinen Kreis von Menschen, die mich lieben und schätzen – unabhängig davon, ob ich eine Medaille mit nach Hause bringe“, sagt sie.

Die Verantwortlichen eines Verbandes, dessen Förderung von Erfolgen abhängt, dürften eher nicht dazugehören. Dabei war deren Erleichterung, nach der Nullnummer von Budapest nun vier Medaillen in der Bilanz zu haben, spürbar.

Wie Team Deutschland steht auch die Leichtathletik-Auswahl im internationalen Vergleich auf Platz neun mit der Goldmedaille von Ogunleye, Silber von Weitspringerin Malaika Mihambo und Neugebauer sowie der Bronzemedaille der Staffel.

Wenigstens die Trophäe von Lückenkemper sollte allerdings einen Goldrand bekommen. 9,89 Sekunden für ihren Kurvenlauf von Lisa Mayer zu Schlussläuferin Rebekka Haase – so schnell war an diesem Abend keine andere der besten Sprinterinnen der Welt. Allein Twanisha Terry aus der amerikanischen und Gémima Joseph aus der französischen Staffel, beide auf der Gegengeraden unterwegs, unterboten in 9,98 ebenfalls zehn Sekunden.

Gina Lückenkemper hatte ein Feuerwerk ihrer Beine versprochen. Von ihr wird, wie man so sagt, noch einiges zu erwarten sein.

Michael Reinsch, Paris 2024 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Montag, dem 12.8.2024

Michael Reinsch   Korrespondent für Sport in Berlin.

 

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