Die Gruppe nach dem Lauf - Foto: Erdmute Nieke
… besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind. Bericht über den Erinnerungslauf nach Berlin-Plötzensee am 20. Juli 2024 – Dr. Erdmute Nieke
„Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“ Ein Satz von Alfred Delp (1907-1945), 1945 im Gefängnis in Tegel formuliert, läuft bei diesem Erinnerungslauf zum 80. Jahrestag des Stauffenberg-Attentats mit.
Rose für Erwin von Witzleben – Foto: Erdmute Nieke
Bei ziemlich warmen Sonnenschein treffen sich fünf Läufer:innen und drei Radfahrer:innen morgens um neun am Jungfernheidepark. Mit reichlich Wasser und acht weißen Rosen ausgestattet, laufen wir gemeinsame zwölf Kilometer – eine Art Zeitreise auf Spurensuche in die Vergangenheit.
Unter dem Motto „Nie wieder ist jetzt!“ war der Lauf ausgeschrieben. Der Satz, der auf vielen Demos in den letzten Monaten zu lesen ist, erinnert an eine Aussage von Claus Schenk Graf von Stauffenberg über die Vorbereitungen zum 20. Juli 1944: „Es ist Zeit, daß jetzt etwas getan wird. Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muß sich bewußt sein, daß er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird. Unterläßt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem Gewissen.“
Rose für Alfred Delp – Foto: Erdmute Nieke
Wir leben heute besser und glücklicher, denn wir leben in einer Demokratie. Doch diese Demokratie muss geschützt werden, so formuliert es, während wir die Erinnerungsorte erlaufen, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auf der zentralen Gedenkveranstaltung im ehemaligen Bendlerblock in Berlin-Tiergarten. (https://www.tagesschau.de/inland/jahrestag-stauffenberg-attentat-100.html)
Die nationalsozialistische Diktatur verurteilt die Widerstandskämpfer:innen des 20. Juli 1944 zum Tod. In Plötzensee werden 89 Menschen hingerichtet, die zu den Widerstandskreisen des 20. Juli 1944 gehören. Wir treffen unterwegs fünf Menschen von ihnen. Sie folgten alle ihrem Gewissen und mussten das mit ihrem Leben bezahlen.
Rose für Elisabeth und Erich Gloeden und Elisabeth Kuznitzky – Foto: Erdmute Nieke
Zuerst lernen wir Erwin von Witzleben (1881-1944) kennen. Die Grundschule im Halemweg trägt seinen Namen. Wäre das Attentat erfolgreich gewesen, hätte er den Oberbefehl über die Wehrmacht übernommen. Es kam anders. Bereits am 8. August 1944 wird er von Roland Freisler zum Tode verurteilt und in Plötzensee hingerichtet. Die Hoffnung Hitlers, dass – wenn seine Asche in alle Winde verstreut ist – sich niemand mehr an Erwin von Witzleben erinnert, erfüllt sich nicht. Die Gedenktafel an der Grundschule schmücken wir mit einer weißen Rose.
In der Gedenkkirche des Kameliterinnenklosters Regina Martyrum treffen wir den Jesuitenpater Alfred Delp (1907-1945). Er ist Priester in München und hat in in Philosophie promoviert. Im Kreisauer Kreis beteiligt er sich an der Gestaltung einer Neuordnung nach der Beendigung der Nazi-Diktatur. Er ist Experte für sozialethische Fragen. Acht Tage nach dem Attentat wird er in München nach der Frühmesse verhaftet und nach Berlin-Moabit, später nach Tegel gebracht. Im Gefängnis in Tegel legt er die letzten Gelübde – die ewige Profess – als Mönch des Jesuitenordens ab.
Fünf Rosen im ehemaligen Hinrichtungsraum in Plötzensee – Foto: Erdmute Nieke
Dank des evangelischen Gefängnispfarrers Harald Poelchau können 184 Seiten seiner Texte aus dem Gefängnis geschmuggelt werden. Wir lesen: „Man muß die Segel in den unendlichen Wind stellen, dann erst werden wir spüren, welcher Fahrt wir fähig sind.“ Ein aktueller Satz! In der Gedenkkirche finden wir einen letzten Brief und seinen Hostienbeutel aus Tegel. Zu Mariä Lichtmess – am 2. Februar 1945 – an wird Alfred Delp in Plötzensee hingerichtet. Unter einer modernen Pieta der Kirche sind seine Lebensdaten eingelassen. Da legen wir eine weiße Rose für ihn nieder. Seine Worte begleiten uns auf unserem Weg „Es sollen einmal andere besser und glücklicher leben dürfen, weil wir gestorben sind.“
Am Gloedenpfad treffen wir drei Menschen: Elisabeth Charlotte Gloeden (1903-1944), ihren Mann Erich Gloeden (1888-1944) und ihre Mutter Elisabeth Kuznitzky (1878-1944). Elisabeth, die Tochter, ist Juristin, Erich Architekt. Erich Gloeden hieß eigentlich Loevy. Sein Vater war der Bronzegießereibesitzer, der 1916 den Schriftzug DEM DEUTSCHEN VOLKE am Reichstag anbrachte. Erich ließ sich 1918 von einem Freund der Familie adoptieren, um seinen jüdischen Namen ablegen zu können.
Rückweg aus dem Hinrichtungsraum in Plötzensee – Foto: Judith Jeschke
Das Ehepaar Gloeden lebt mit Elisabeths Mutter im schönen Berlin-Westend, in der Kastanienallee 23. Sie verstecken in ihrer Wohnung jüdische Mitmenschen, die untergetaucht sind. Nach dem Attentat verstecken sie fünf Wochen lang Fritz Lindemann, der den Sprengstoff besorgt hatte. Nachbarn denunzieren die Familie. Am 3. September 1944 werden alle verhaftet. Erich versucht seine Frau und Schwiegermutter vor dem Volksgerichtshof zu entlasten, dass sie nicht gewusst hätten, wer Lindemann gewesen sei. Als Erich zum Tode verurteilt wird, folgen die beiden Elisabeths ihrem Gewissen und geben ihre Mitwisserschaft zu. Alle drei werden am 20. November 1944 in Plötzensee hingerichtet. Wir hinterlassen am Straßenschild Gloedenpfad eine weiße Rose.
Mit fünf Rosen laufen und radeln wir nun zur Gedenkstätte Plötzensee. Seit 1952 ist der Hinrichtungsraum Gedenkort. Während der NS-Diktatur werden hier über 2800 Menschen aus 20 Nationen hingerichtet.
Erinnerungswand in der Gedenkstätte – Foto: Erdmute Nieke
Gestärkt nach einem Becher Wasser, betreten wir gemeinsam den Hinrichtungsraum. Sonne scheint durch die Fenster. Ein riesiger Gladiolenstrauß schmückt den Ort der Grausamkeit. Wir legen ganz still und in Erinnerung an Erwin, Alfred, Elisabeth Mutter, Elisabeth Tochter und Erich unsere weißen Rosen nieder. Ihr seid Eurem Gewissen gefolgt und musstet dafür sterben. Wir dürfen heute besser und glücklicher leben.
Wir treten wieder hinaus in die Sonne und schauen uns die vielen frischen Kränze an der Gedenkwand an. Direkt hinter der Gedenkstätte sehen wir den Stacheldraht der heutigen JVA Plötzensee. Jedes Jahr im Frühjahr findet genau da der Berliner Gefängnislauf statt. Externe und interne Läufer:innen erleben gemeinsam einen echten 10-km-Wettkampf. Wir dürfen heute besser und glücklicher leben.
Dann verlassen wir den Gedenkort und laufen durch die warme Sonne sieben Kilometer zurück in unseren Alltag. Die Strecke führt am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal entlang. Unsere dreiköpfige Fahrradeskorte freut sich, dass alle fünf Läufer:innen im September den 50. Berlin-Marathon laufen wollen. Unterwegs treffen wir eine Schwanenfamilie. Das alles passt irgendwie zu Alfred Delps Satz: Wir dürfen heute besser und glücklicher leben.
Schwanenfamilie – Foto: Erdmute Nieke
Beim alkoholfreien Zielbier erhalten alle Teilnehmer:innen einen Flyer mit den fünf Biografien der Menschen, die wir getroffen und an die wir erinnert haben.
Nie wieder ist jetzt – Demo in Berlin-Lichterfelde am 12. Juli 2024 – Foto: Erdmute Nieke
Wir sind uns einig: Nie wieder! Ist jetzt!
Dr. Erdmute Nieke
weitere Erinnerungsläufe unter: https://lauffreude-berlin.github.io/post/aktuelle-termine/
Geschichte(n) an einer Laufstrecke – Gedanken vom S25 in Berlin am 5. Mai 2024 von Dr. Erdmute Nieke