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07
05
2024

S 25 Berlin - die 25 km von Beerlin - Kurz nach Start vor dem Olympiastadion - Foto: Horst Milde

Geschichte(n) an einer Laufstrecke – Gedanken vom S25 in Berlin am 5. Mai 2024 von Dr. Erdmute Nieke

By GRR 0

Im letzten Startblock auf dem Olympischen Platz wird vom Moderator ein Läufer in pink, der eine lila Perücke trägt, hervorgehoben.

Und dann schallt aus dem Lautsprecher ein Satz, der so gar nicht geht: „Die Haare wie Margot Honecker!“ Mein Start war mir verdorben, mein Kopfkino an. Margot in den 80er Jahren Bildungsministerin und Verantwortliche für alle Jugendwerkhöfe der DDR…!

Ich brauche eine Weile um auf andere Gedanken zu kommen. Wie geschichtsvergessen kann ein Sportmoderator sein?

Allmählich komme ich ins Laufen, leichter Regen und – wie immer – ein dichtes Läufer:innenfeld fordern die Konzentration auf das Hier und Jetzt.

Die Strecke des S25 belohnt nach dem Start mit dem Blick auf eine endlose Läufer:innenmenge, die sich auf dem Kaiserdamm und der Bismarckstraße scheinbar bis zur Siegessäule bergab bewegt.

S25 Berlin auf dem Weg durch die Hauptstadt – Foto: Horst Milde

Vier Wochen früher ging es beim Berliner Halbmarathon des SCC teilweise auf der gleichen Strecke in die andere Richtung.

Da waren alle Straßen nur für uns Läufer:innen da und der Autoverkehr verbannt. Beim S25 müssen wir damit leben, dass die Gegenfahrbahnen nicht gesperrt sind. Einige Autos hupen vor Begeisterung, ihre Abgase muss ich einatmen.

Warum wird für über 11.000 Läufer:innen der Autoverkehr nicht komplett gesperrt?

Der Blick auf das Brandenburger Tor bringt mich auf andere Gedanken. Kurz vorher auf der Straße des 17. Juni eine unscheinbare Mauer mit dem Schriftzug: „Den Opfern der Mauer 13. August 1961“ und schon läuft die Menge durch das Tor, das heute das Symbol einer freien Stadt ist. Gleich dahinter Unter den Linden passieren wir die russische Botschaft, auf dem Mittelstreifen davor viele Blumen und Friedensforderungen.

Dann führt die Strecke in diesem Jahr über den Hausvogteiplatz. Hier waren wir im Herbst auf den Spuren von Moses Mendelssohn laufend unterwegs. Sein Wunsch an seine Mitmenschen ist heute genauso aktuell wie vor über 200 Jahren: „Betrachtet uns … als Mitmenschen und Miteinwohner des Landes … und lasset uns … die Rechte der Menschheit mit genießen.“ (Moses Mendelssohn 1783)

Am Potsdamer Platz wandern meine Gedanken einhundert Jahre zurück ins Cafe Josty. Ein Ort an dem sich die Künstler:innen der Zeit trafen: Franz Kafka, Käthe Kollwitz, George Grosz.

Am Platz vor der Philharmonie passieren wir das Denkmal für die Opfer der T4-Aktion (Tiergartenstraße 4) der Nationalsozialisten. Noch in Gedanken an die Menschen, denen das Lebensrecht abgesprochen wurde, entdecke ich ein riesiges Poster mit mit dem Wort FRIEDEN in vielen Sprachen. Es hängt am Canisius-Kolleg auf der Tiergartenstraße.

Weiter geht es, einmal links, einmal rechts und schon ist das KaDeWe in Sicht. Gleich nebenan wohnt Margot Friedländer. 102-jährig hat sie gerade bei der Filmpreisverleihung an unsere Verantwortung erinnert, damit sich die Geschichte NICHT wiederholt.

Am Savignyplatz muss ich an Charlotte Salomon denken, die Berliner Malerin, die 1917 hier in Charlottenburg geboren wurde. 1943 wird sie – im 5. Monat schwanger – in Auschwitz ermordet. Am Frauentag waren wir auf den Spuren ihrer Familie im Kiez unterwegs.

 Charlotte Salomon – Selbstporträt – Foto: Erdmute Nieke

In der Kantstraße laufen wir an einer ehemaligen kleinen Synagoge vorbei, deren Gebäude heute noch im Hinterhof der Hausnummer 125 mit etwas Mühe zu finden ist. Die Strecke führt auf der Neuen Kantstraße über den Lietzensee, dann links der Funkturm. Zwischen Funkturm und Halensee war vor 100 Jahren der Lunapark, der Besitzer dieses Vergnügungsparks ließ eine prächtige Synagoge in der Markgraf-Albrecht-Straße errichten, lange hat sie nicht gestanden. Rings um die Laufstrecke fanden sich vor 100 Jahren acht Synagogen. Wir sind die Orte abgelaufen. Drei Synagogen gibt es noch – beziehungsweise – wieder.

Synagoge in der Markgraf Albrecht Strasse – Foto: Dina Fiehn

Geschichte und Geschichten fast an jeder Straßenecke! So geht es den Berg wieder hinauf. Bei Kilometer 20 reißt mich eine große, fröhliche Bigband aus meinen Gedanken.

Am Ende geht es durch den Olympiapark, die Sandsteinfiguren an den Gebäuden erinnern an den NS-Körperkult. Olympische Sommerspiele 1936Propaganda der Nationalsozialisten – eine Farce – aus der Sicht der Nachgeborenen. Möge sich Geschichte nicht wiederholen!

Laufen in Berlin – das ist immer auch Laufen durch die Vergangenheit!

Für die Zukunft sind wir in der Verantwortung: Mehr Frieden und mehr Achtung vor allen Mitmenschen!

Dr. Erdmute Nieke
http://www.lauffreude.berlin

DANKE, Charlotte, für Deine Bilder! Bericht über den 6. Frauentagslauf für alle Geschlechter in Berlin am 8. März 2024 – Dr. Erdmute Nieke

Zehn weiße Rosen – Elf jüdische Erinnerungsorte – Sechs gelaufene Kilometer – Gedanken zum Erinnerungslauf am 9. November 2023 durch Berlin-Spandau von Dr. Erdmute Nieke

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