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08
2021

 Sydney McLaughlin 2020 Tokyo Olympic Games - Tokyo, Japan July 29-August 8, 2021 Photo: Andrew McClanahan@PhotoRun Victah1111@aol.com 631-291-3409 www.photorun.NET

Das Rennen der Zukunft – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Auch bei den Frauen fällt der Weltrekord über 400 Meter Hürden. Sydney McLaughlin läuft eine Fabelzeit. Was steckt hinter der Rekordschwemme?

Die Spiele von Sydney sah L’Equipe, die französische Sport-Tageszeitung, voraus. Doch trotz des Olympiasiegs, trotz des fantastischen Weltrekords von 51,46 Sekunden, trotz eines der spannendsten Leichtathletik-Rennen dieser Spiele, wirkt der erwartete Triumph der Sydney McLaughlin am Mittwochmorgen, nun ja, ein wenig wie die Nachricht von gestern:

Nun haben auch die Amerikanerin sowie die Olympiasiegerin von Rio und Weltmeisterin von Doha, Dalilah Muhammad (51,58), den Weltrekord über 400 Meter Hürden pulverisiert, den sie selbst erst bei den US-Trials im Juni unter 52 Sekunden gedrückt hatte (51,90).

Woran liegt es, dass schier unglaubliche Leistungen den einen Tag als Sensation gelten, den anderen fast schon als normal? An ihrer Häufigkeit? McLaughlin verbesserte die Zeit für die Stadionrunde um 44 Hundertstelsekunden, Muhammad blieb 32 Hundertstel unter dem alten Weltrekord. Die Niederländerin Femke Bol wurde in 52,03 Sekunden Dritte. Das war Europarekord; vor sechs Wochen wäre es Weltrekord gewesen.

Karsten Warholm hatte am Dienstag den Weltrekord auf derselben Strecke um 76 Hundertstel, eine Dreiviertelsekunde, auf 45,94 Sekunden verbessert, und dabei hatten der Zweite und der Dritte, Rai Benjamin (in 46,17) und Alison dos Santos (46,72) den Maßstab unterboten, der fast drei Jahrzehnte lang, seit den Olympischen Spielen 1992, gegolten hatte: die 46,78 Sekunden von Kevin Young. Warholm hatte sie im Juli in Oslo zum ersten Mal unterboten. Er und seine Konkurrenten liefen das Rennen des Jahrhunderts, wenn man den Schlagzeilen glauben darf.

Was also gelang nun Sydney McLaughlin? Das Rennen der Zukunft?

Die Amerikanerin war mit fünfzehn Junioren-Weltmeisterin. Mit sechzehn erreichte sie den Endlauf der Olympischen Spiele von Rio. Mit achtzehn war sie Zweite der Weltmeisterschaft von Rio; Dalilah Muhammad musste Weltrekord laufen, um sie zu besiegen. „Druck ist eine Illusion“, behauptet McLaughlin. Sie spricht wie ein hundertjähriges Orakel, doch sie ist eine erst 21 Jahre alte Athletin. So phänomenal ihre Leistung ist: Eigentlich erfüllt sie lediglich die unfassbar hohen Erwartungen, die das Publikum und sie selbst hegen.

„Ich kriege es selbst noch nicht klar“, erwiderte sie, als sie nach dem Weltrekord, ihrem zweiten, gefragt wurde. „Ich bin sicher, dass ich das noch verarbeiten und später feiern werde.“ Die zehn Jahre ältere Dalilah Muhammad schien sich aufrichtig zu freuen über ihre Silbermedaille. Sie lächelte und plauderte entspannt mit der Siegerin. Bis zur neunten Hürde schien ihre Taktik aufzugehen, sich ohne jede Zurückhaltung ins Rennen zu stürzen. Sie entschied sich erst danach, ob sie den letzten Sprung mit rechts oder links nehmen wollte. „Ich entschied mich für rechts und musste deshalb ein bisschen kürzer treten“, erzählte sie. „So geht’s nun mal. Ich habe alles getan, was ich konnte. Ich werde mir wahrscheinlich noch Vorwürfe machen, aber im Moment bin ich wirklich glücklich.“

Sydney McLaughlin lobte ihren Trainer Bobby Kersee, der einst für die außergewöhnlichen, erstaunlichen Leistungen der Florence Griffith-Joyner verantwortlich war, die seit den Olympiasiegen von Seoul 1988 bis heute an der Spitze der Sprint-Bestenlisten stehen. Sydney McLaughlin machte lange ein Geheimnis daraus, dass sie Trainerin Joanna Hayes verließ für ihren vierten Coach innerhalb von vier Jahren. Sie habe einen analytischeren Trainer gewollt, erklärte sie schließlich, einen, der sie nicht ihrem Gefühl fürs Rennen überlässt, sondern einen Plan entwickelt. Wer die letzten hundert Meter des Rennens am Mittwoch sah, verstand, warum Kersee seine Athletin Anfang des Jahres über hundert Meter Hürden starten ließ: Sie beendete das Rennen mit einem Sprint. „Er sah etwas in mir und meiner Karriere“, sagte sie in Tokio, „was ich selbst nicht gesehen hatte.“

So vieles, was man nicht sieht, lädt bei den erstaunlichen Leistungen der Leichtathleten in Tokio zu Spekulationen ein. Mit welchen Mitteln arbeiten McLaughlin und Kersee? Wirken die Spikes mit der federnden Carbonplatte in der zwei Zentimeter dicken Sohle? Am Dienstag erklärte das italienische Unternehmen Mondo, was in der Bahn steckt: Die neu entwickelte, nur 14 Millimeter dicke Oberfläche enthalte federndes Gummigranulat, darunter seien luftgefüllte Achtecke verborgen.

Dies mache Läuferinnen und Läufer ein bis zwei Prozent schneller. Wie beruhigend wäre es, wenn nichts anderes dahintersteckt.

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Mittwoch, dem 4. August 2021

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

 

 

 

 

author: GRR