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01
08
2021

Shelly-Ann Fraser-Pryce aus Jamaika, genannt „Pocket Rocket“  - 2019 World Outdoor Championships Doha, Qatar Sept27-Oct 06, 2019 Photo: Victah Sailer@PhotoRun Victah1111@aol.com www.photorun.NET #victahsailer

Olympische Sprinter im Fokus: „Taschenrakete“ und „Comeback-König“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

By GRR 0

Kein Bolt, kein Gatlin, kein Coleman: In den Sprint-Rennen von Tokio fehlen nicht nur bei den Männern etliche prominente Namen. Das wollen andere mit schnellen Läufen für sich nutzen.

Sprinterinnen und Sprinter werden in Tokio sehr schnell laufen müssen, um die Abwesenden vergessen zu machen. Im Endlauf der Männer über 100 Meter, der an diesem Sonntag (14:50 Uhr MESZ im F.A.Z.-Liveticker zu Olympia, im ZDF und bei Eurosport) ausgetragen wird, 24 Stunden nach dem Rennen der Frauen, fehlen große Namen.

Usain Bolt, der in Peking 2008, London 2012 und Rio 2016 Olympiasieger über 100 und 200 Meter wurde und von seinen drei Erfolgen mit der Staffel noch über zwei Goldmedaillen verfügt etwa. Er hat Erinnerungen an einen charmanten, tanzenden Superstar der Leichtathletik hinterlassen, seine Weltrekorde und den Eindruck, dass weit und breit niemand in seine Fußspuren passt. Die Weltmeister von London 2017, Justin Gatlin, und von Doha 2019, Christian Coleman, fehlen; der 39 Jahre alte Gatlin, bei seinem Titelgewinn vom Publikum als Doper ausgebuht, humpelte bei den amerikanischen Trials verletzt auf Platz acht, Coleman ist gesperrt, weil er bei ein paar Doping-Kontrollen zu viel nicht anzutreffen war.

Überzeugendes Comeback

Der flamboyante Noah Lyles scheiterte beim Versuch, neben den 200 Meter auch die 100 zu meistern. Favorit ist Trayvon Bromell, Sieger der Trials. Für ihn stehen 9,77 Sekunden zu Buche, eine Bestzeit, die in der Geschichte des Sprints nur sechs Läufer je unterboten. Nur einer von ihnen, der inzwischen 31 Jahre alte Jamaikaner Yohan Blake, ist noch im Rennen. Seine Bestzeit von 9,69 Sekunden stammt von 2012, und in den neun Jahren seitdem ist es ihm nicht mehr gelungen, 9,90 zu unterbieten.

Bromell kann von Glück reden, dass nicht auch er zu den Abwesenden gehört. Bei den Spielen von Rio erreichte er, mit damals 21 Jahren, den Endlauf und wurde Letzter. Als Schlussläufer der amerikanischen Staffel warf er sich als Dritter ins Ziel – vergebens, weil das Team wegen eines Wechselfehlers disqualifiziert wurde – und stand nicht mehr auf. Er hatte sich die Achillessehne gerissen und wurde im Rollstuhl von der Bahn geschoben. Zwei Operationen, drei Jahre und einen Trainerwechsel später erst war er wieder ein konkurrenzfähiger Sprinter.

Trayvon Bromell – 2016 USA Olympic Team Track and Field Trials – Eugene, Oregon July 1-10, 2016
Photo: KevinMorris@PhotoRun victah1111@aol.com

Coach Rana Rider und Bromell nutzten die Saison 2020 und die Verschiebung der Olympischen Spiele für ein überzeugendes Comeback, in dem der Sprinter gleich mehrmals die zehn Sekunden unterbot. Vielleicht sagt dies etwas über die Perspektive des 26-Jährigen aus, der von einer alleinerziehenden Mutter im armen Süden von St. Petersburg in Florida aufgezogen wurde und der seine Dominanz auch bei den Weltmeisterschaften von Eugene (Oregon) 2022 und Budapest 2023 sowie Olympia 2024 in Paris zeigen soll: Ricky Simms, der Manager von Usain Bolt, hat ihn unter Vertrag.

Fürs Kiffen gesperrt

Bei den Frauen gibt es, zusätzlich zu der Niederländerin Daphne Schippers, die sich auf die 200 Meter beschränkt, über die sie in Peking 2015 und in London 2017 Weltmeisterin wurde, eine große Abwesende: Sha’Carri Richardson. Die Amerikanerin hat in diesem Jahr fünf Mal elf Sekunden unterboten und ist mit 10,72 Sekunden immerhin die Drittschnellste der Saison. Doch die 21-Jährige wurde, nachdem sie bei den Trials gesiegt hatte, positiv getestet – nicht auf Covid und nicht auf ein Doping-Mittel, sondern auf Marihuana.

„Alle fanden toll, wie schnell sie lief, und für Sha’Carri ist es blöd, weil das kein leistungssteigerndes Mittel ist“, sagt Bromell: „Aber es steht auf der Verbotsliste, und die haben wir zu respektieren. Das Gute daran: Es bringt die Leute zum Nachdenken. Sollte dies überhaupt auf der Liste stehen?“ Auch Sebastian Coe, Präsident des Weltverbandes World Athletics und Mitglied des Internationalen Olympischen Komitees, empfiehlt eine Überprüfung des Verbots.

Sha’Carri Richardson jedenfalls wurde fürs Kiffen dreißig Tage gesperrt; die Sperre läuft zwischen den Einzelrennen und den Staffelläufen von Tokio aus. Doch der amerikanische Verband verzichtete darauf, sie für die Mannschaft zu nominieren. Und tatsächlich laufen die Konkurrentinnen so schnell, dass sie die Abwesenden vergessen machen könnten. In den Vorläufen am Freitag erwies sich Marie-Josée Ta Lou von der Elfenbeinküste trotz leichten Gegenwinds als Schnellste und lief in 10,78 Sekunden Afrika-Rekord. Die Favoritinnen waren ihr, in anderen Läufen, von der Zeit her dicht auf den Fersen: Elaine Thompson-Herah in 10,82 Sekunden und Shelly-Ann Fraser-Pryce in 10,84. Die beiden Jamaikanerinnen haben, wie Usain Bolt, die Sprint-Goldmedaillen der zurückliegenden drei Spiele gewonnen: die eine 2016, die andere 2008 und 2012.

„Das vierte Mal bringt Glück“

Shelly-Ann Fraser-Pryce, wegen ihrer Größe von 1,52 Meter „Pocket Rocket“, Taschenrakete, genannt, ist auf ihrer Heimatinsel zu Prominenz von fast royaler Größe gewachsen. Ihr Ehemann und der vor vier Jahren, nach Platz drei bei den Spielen von Rio, auf die Welt gekommene Sohn Zyon sind wie sie Gegenstand zugewandter Berichterstattung in den Gesellschaftsteilen der Zeitungen. Sie hat, nach ihrem Haar- und Schönheitssalon von Kingston, eine Stiftung gegründet, mit der sie talentierte Sportlerinnen und Sportler auf dem Weg ins Profileben unterstützt, die sich das sonst nicht leisten könnten.

Doch vom Rennen will sie auch mit 34 Jahren nicht lassen. Sie kämpft in Tokio darum, als Erste drei Mal Olympiasiegerin auf den 100 Meter werden. Dreizehn Jahre nach ihrem olympischen Debüt, damals noch mit Zahnspange, ist sie so schnell wie noch nie in ihrem Leben. Im Juni verbesserte sie in Kingston ihre Bestzeit auf erstaunliche 10,63 Sekunden, schneller als jede andere in dieser Saison. Drei Wochen später gewann sie bei den jamaikanischen Meisterschaften die Titel über 100 und 200 Meter, beide vor der fünf Jahre jüngeren Elaine Thompson-Herah, für die seit einem Rennen in Ungarn 10,71 zu Buche stehen, die zweitbeste Zeit des Jahres.

„Das vierte Mal bringt Glück“, sagt die große alte Dame des Sprints in Anspielung auf ihre vierte Olympia-Teilnahme. „Mein Leben lang hatte ich mit Zweiflern zu tun, Leuten, die bestimmen wollten, wann ich aufhöre oder weiterlaufe, aber ich bin froh, dass ich immer einen solchen Antrieb und eine solche Konzentration auf das hatte, was ich erreichen will.“ Eine Zeit von 10,6 zu laufen sei immer einer ihrer Träume gewesen, und die Goldmedaille von Tokio sei ein weiterer: „Das gehe ich an.“

Europameisterin Dina Asher-Smith aus Großbritannien war am Freitag nach 11,07 Sekunden im Ziel, die deutsche Meisterin Alexandra Burghardt gewann ihren Vorlauf in 11,08 Sekunden. Auch Tatjana Pinto erreichte das Halbfinale, in 11,16 Sekunden

Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 31.7.2021

Michael Reinsch

Korrespondent für Sport in Berlin.

author: GRR