Dagmar Freitag - Foto: Deutscher Bundestag
Dagmar Freitag im Interview: „Ein verheerendes Bild“ – Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Dagmar Freitags Zeit als Vorsitzende des Sportausschusses im Bundestag endet bald. Zuvor spricht sie über die Führung von DOSB und DFB, die Rücksichtslosigkeit der UEFA und Olympia in Corona-Zeiten.
Sie sind seit 1994 Abgeordnete des Deutschen Bundestages und haben zwölf Jahre lang dessen Sportausschuss geleitet. Zur Wahl im September treten Sie nicht mehr an. War die Verabschiedung des Anti-Doping-Gesetzes 2015, nach langem Kampf gegen die Sportverbände und gegen Ihren Parteifreund und Innenminister Otto Schily, Ihr größter politischer Erfolg?
Ich würde Platz eins zweimal vergeben. Einmal für die Verabschiedung des Anti-Doping-Gesetzes. Dass es über zwanzig Jahre dauern sollte, bis dieser Ball im Tor landet, hätte ich mir nicht träumen lassen. Natürlich war der Kampf gegen die Verbände, auch gegen die Vorgängerorganisation des Deutschen Olympischen Sportbundes, den Deutschen Sportbund, extrem hart. Da hat es auch persönliche Verletzungen gegeben. Und ja, ich habe lernen müssen, dass Innenminister sehr ungern eine Konfrontation mit dem organisierten Sport wagen. Diese Erfahrung habe ich nicht nur mit Otto Schily gemacht.
Und der andere größte Erfolg?
Die Gründung von Athleten Deutschland.
Auch dies gegen den Widerstand des organisierten Sports.
Was niemanden überraschen wird: Immer wenn der Staat sich in vermeintlich interne Belange des organisierten Sports einbringt – ich will nicht von einmischen sprechen -, gibt es Widerstände, mal subtil, mal offen. Bei der Gründung von Athleten Deutschland waren wir uns in der Großen Koalition, übrigens auch erst nach einigen Diskussionen, einig, dass im 21. Jahrhundert mündige und meinungsstarke Athleten sich selbst vertreten können und nicht als Anhängsel im System des Sports betrachtet werden dürfen. Athletinnen und Athleten von heute wissen ihre Möglichkeiten ganz anders zu nutzen. Obwohl die internationale Vernetzung der Athletenvertretungen noch am Anfang steht, ist deren Wirkung nicht rückgängig zu machen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass dies eine Bewegung von Dauer sein wird. Wer anders als die Athletinnen und Athleten sollte im Mittelpunkt des Sports stehen? Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften gäbe es nicht, wenn nicht hochbegabte Athletinnen und Athleten aus aller Welt sich im Wettkampf messen wollten. Ohne Sportlerinnen und Sportler keine Spiele, und ohne Spiele bräuchte man keine Funktionäre.
Jonas Baer-Hoffmann, Generaldirektor der Spielergewerkschaft FIFPro, bittet Regierungen, Athleten vor den Ansprüchen von Verbänden und Ligen zu schützen. Müssen diese reguliert werden?
Im internationalen Wettbewerb sehe ich Handlungsbedarf. Was hat es noch mit Sport zu tun, wenn für einen zwanzigjährigen Fußballspieler mal eben eine Ablösesumme von 175 Millionen Euro im Raum steht? Die Spieler sind Luxusgüter, übrigens auch mit Auswirkungen auf die Aktienkurse der jeweiligen Vereine. Und diese Spieler müssen auf den Platz, selbst kurz nach beispielsweise einer Covid-19-Infektion, ohne dass die Langzeitfolgen einer solchen Erkrankung hinreichend erforscht sind. Ich teile die Bedenken von Jonas Baer-Hoffmann. Man hätte durchaus erwarten können, dass sich etwas ändert, seit Christoph Kramer im Endspiel der Fußballweltmeisterschaft 2014 nach einem heftigen Ellbogenstoß an den Kopf die Partie mehr oder weniger benommen weiterspielte.
Diesmal kämpfte ein Spieler auf dem Platz um sein Leben.
Es waren erschreckende und verstörende Bilder. Christian Eriksen ist vor den Augen seiner Mitspieler beinahe gestorben. Doch von der UEFA hieß es nur: Wann spielt ihr weiter, heute Abend oder morgen Mittag? Niemand machte sich Gedanken über die extreme psychische Belastung, der Spieler und Schiedsrichter auf dem Rasen ausgesetzt waren. Eiskaltes Management seitens der UEFA – the show must go on.
Die UEFA hat Städte und Staaten erpresst, Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus aufzuheben für Fußballzuschauer und Ehrengäste. Welche Konsequenzen sollte die Politik ziehen?
Es wäre gut, wenn die Staaten künftig deutlich machten: Wir sind nicht erpressbar. Nur: Gerade in einem solchen Konsortium von Staaten, wie wir es bei dieser Europameisterschaft hatten, sind immer einige dabei, denen man mit Argumenten für Gesundheitsschutz nicht zu kommen braucht; ich denke an Herrn Orbán in Ungarn und Herrn Alijew in Aserbaidschan. Deshalb werden die internationalen Sportverbände immer Staaten finden, die aus der Solidarität der Vernünftigen ausscheren.
Wie beurteilen Sie die Rolle des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), das seine Spiele in Tokio nach der Verschiebung um ein Jahr gegen den Willen der Mehrheit der Japaner durchpaukt?
Die ablehnende Haltung einer mittlerweile deutlichen Mehrheit in der japanischen Bevölkerung interessiert im IOC aus meiner Sicht kaum jemanden. Für das IOC ist allein entscheidend, dass die Spiele durchgezogen werden. Denn nur das spült das Geld in die Kasse des IOC. Und somit auch in die Kassen der internationalen Sportverbände und der Nationalen Olympischen Komitees. Kein Wunder also, dass es aus diesen Reihen kaum kritische Stimmen gibt. Die explodierenden Infektionszahlen in Großbritannien lassen nach den aus meiner Sicht erschreckenden Bildern aus dem fast vollbesetzten Wembley-Stadion andere Interpretationen nicht zu: Solche Veranstaltungen, zu denen Zehntausende zusammenkommen, auch Olympische und Paralympische Spiele, passen aus meiner Sicht nicht in Zeiten einer Pandemie, in der weltweit Menschen immer noch keine Aussicht auf eine Impfung haben und die somit weiterhin unzählige Menschenleben kostet.
Wie beurteilen Sie, dass Olympia ohne Zuschauer stattfinden wird?
Eine sicher nicht nur aus meiner Sicht unvermeidliche Entscheidung, da die japanische Regierung massiv unter Druck steht durch eine Bevölkerung, die überwiegend die Spiele ablehnt und weithin noch nicht geimpft ist. Die offizielle Kommunikationsstrategie im Sport ist ja hinreichend bekannt: Für die Sicherheit und Maßnahmen der Gesundheitsvorsorge seien grundsätzlich die örtlichen Behörden zuständig. Die von den jeweiligen Verbänden selbst entwickelten Hygienekonzepte garantieren angeblich ja immer sichere Veranstaltungen.
Verbandspräsidenten wie Thomas Bach, Aleksander Ceferin und Gianni Infantino sehen sich auf Augenhöhe mit Regierungschefs und Staatspräsidenten. Braucht ihre Macht ein Gegengewicht?
Das ist in der Tat deren Anspruch. Ein Gegengewicht kann nur die Politik selbst schaffen. Nancy Pelosi, Sprecherin des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten, hat einen diplomatic boycott der Winterspiele in Peking 2022 ins Gespräch gebracht, Staaten wie Kanada haben Sympathie für diesen Vorschlag gezeigt. Das könnte zur Folge haben, dass Thomas Bach sich auf der Ehrentribüne nicht mit ranghohen Vertreterinnen und Vertretern solcher Staaten ablichten lassen kann. Immer nur mit Diktatoren und Autokraten gesehen zu werden bereitet auf Dauer vielleicht doch nicht nur Freude.
Warum ist es wichtig, dass die deutsche Olympiamannschaft erfolgreich ist?
Das deutsche Team muss bekanntlich mit einem Delegationsleiter auf Abruf nach Tokio reisen. Da wird der DOSB als Dachverband mitten in seiner schwersten Führungskrise nicht auch noch Interesse an weiteren Negativschlagzeilen haben. Die bedeutendste Sportveranstaltung des Jahres kann mit den entsprechenden Erfolgen deutscher Athletinnen und Athleten eine positive Signalwirkung in die Gesellschaft haben. Das wäre insbesondere mit Blick auf die vielen Kinder und Jugendlichen wünschenswert, um sie nach der pandemiebedingten Zwangspause zurück in die Sportvereine zu bringen. Ich werbe aber sehr dafür, die Erwartungen nicht allzu hoch zu hängen. Auch die Athletinnen und Athleten haben ein schwieriges Jahr hinter sich. Ob es existenzielle Sorgen durch wegbrechende Sponsorenleistungen waren, die Verschiebung eines eigentlich fest geplanten Berufseinstiegs um ein weiteres Jahr oder fehlende Vorbereitungswettkämpfe: 2021 ist keine Olympiasaison wie in der Vergangenheit.
Sollte Deutschland sich um Olympische Spiele bewerben?
Um mit einer Olympiabewerbung erfolgreich sein zu können, muss der deutsche Sport erst einmal klären, wo er hinwill. Sich komplett neu aufstellen. Klare Konzepte entwickeln. Zu verlässlichen Absprachen in der Lage sein. Dann, und wirklich erst dann, sollten wir über Olympische Spiele in Deutschland reden.
Während der Pandemie war zwar der Spitzensport, nicht aber der Sport in seiner Breite in der Bundespolitik präsent. Was muss sich ändern?
Dass die Probleme der Vereine und die des Breitensports während der Pandemie bei uns keine Rolle gespielt hätten, ist nicht richtig. Der Sportausschuss war in einem engen und dauerhaften Austausch mit Landessportbünden und der Sportministerkonferenz. Dort liegt die eigentliche Verantwortung für den Breitensport. Und ja, wir haben finanzielle Hilfen eher für den kommerziellen Bereich im Sport zur Verfügung gestellt.
200 Millionen plus für Teamsport.
Aber alle 16 Bundesländer haben mit aus meiner Sicht überwiegend zügigen Beschlüssen finanzielle Unterstützung für den Breitensport bereitgestellt. Es gab jedenfalls aus meiner Sicht eine gute Abstimmung und effektive Arbeitsteilung. Anders als der DOSB kann ich übrigens nach wie vor nicht erkennen, dass es eine Pleitewelle unter Sportvereinen gäbe. Bei meinen mittlerweile mehr als zwanzig digitalen Veranstaltungen hat sich gezeigt, dass die finanzielle Lage für kleine und mittlere Sportvereine in der Regel kein wirkliches Thema ist. Da steht eher die Frage im Vordergrund, ob beim Neustart des sportlichen Angebots alle früheren Übungsleiter wieder mit von der Partie sein werden. Oder ob Mannschaften aus dem Spielbetrieb abgemeldet werden müssen, weil nicht mehr genügend Spielerinnen und Spieler da sind. Ein anderes Bild zeigt sich bei Großvereinen, die auch kommerzielle Angebote machen, Fitnessstudios vorhalten oder Kurse anbieten. Das brach alles weg, mit spürbaren Auswirkungen auf diese Vereine und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Deutscher Olympischer Sportbund und Deutscher Fußball-Bund stecken in der Krise. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Mir ist wichtig, dass wir die betroffenen Verbände klar benennen, weil dieses in der Tat beschämende Image ansonsten schnell auf „den deutschen Sport“ übertragen werden könnte. Wir dürfen nicht den Verbänden unrecht tun, die seit Jahren und Jahrzehnten ordentlich geführt werden. Dass mit DOSB und DFB aktuell gleich zwei Dachorganisationen ein verheerendes Bild abgeben, ausgerechnet im Jahr der Olympischen und Paralympischen Spiele sowie der Fußballeuropameisterschaft, zeichnet ein peinliches Bild von Teilen des Führungspersonals im deutschen Sport.
Warum diese Krisen?
Vermutlich, weil man sich seit Jahren in diesen Verbänden selbst genug war. Kritisch-konstruktive Anmerkungen von außen wurden als unerbetene Einmischung oder als unzulässige Eingriffe in die Autonomie des Sports abgekanzelt. Probleme sollten intern gelöst oder unter den Teppich gekehrt werden. Das sieht man insbesondere beim Deutschen Fußball-Bund. Es sind seit Jahren dieselben Personen, die Einfluss auf die Auswahl des neuen Führungspersonals nehmen, und das mit bescheidenem Erfolg. Persönlich setze ich meine Hoffnungen darauf, dass die unverbrauchte, unbestritten kenntnisreiche Sichtweise der Frauengruppe um Katja Kraus und Almuth Schult endlich Gehör innerhalb des DFB findet. Denn das gerade für die Amateure im DFB notwendige Vertrauen in das Führungspersonal zurückzugewinnen wird mit einigen der bisherigen Köpfe aus meiner Sicht nicht gelingen. Beim DOSB könnte möglicherweise das Gefühl vorherrschen, alles laufe doch bestens, solange man nur beim Minister nicht abblitzt.
Beim Innenminister, der das Geld für die Spitzensportförderung lockermacht.
Nur ist es nicht der Innenminister, der das Geld lockermacht. Er gibt lediglich die Mittel weiter, die der Haushaltsgesetzgeber, also die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, im Rahmen der Haushaltsberatungen für den Spitzensport beschlossen haben. Ich hoffe, dass wenigstens der Nachfolger von Herrn Hörmann das versteht. Ist ja nicht wirklich schwer.
Was würden Sie von einem erneuerten Verband erwarten?
Dass man nach innen und außen respekt- und vertrauensvoll miteinander umgeht. Dass man sich auf Angaben und Zahlen verlassen kann. Dass die Athletinnen und Athleten wie auch alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter innerhalb des DOSB die notwendige Wertschätzung verspüren. Für die Neuaufstellung des DOSB würde ich mir zudem wünschen, dass er auf internationaler Ebene wieder wahrnehmbar ist. Für eine erfolgreiche Olympiabewerbung braucht man Partner und verlässliche Verbündete.
Der DOSB sollte also jemanden suchen, der international vernetzt, fremdsprachlich versiert und im Auftreten sympathisch-souverän ist. Und der das ramponierte Verhältnis zum IOC wieder auf eine solide Basis stellt.
Die Fragen stellte Michael Reinsch.
Michael Reinsch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Donnerstag, dem 15. Juli 2021