Trotz ihrer persönlich ansprechenden Resultate finden sich die aktuellen Leistungsträger in den internationalen Ranglisten "unter ferner liefen" plaziert. Alleine ein Martin Grüning ist als 61. der Top-Achtzig notiert.
20 Jahre Deutsche Einheit – Der 17. Berlin-Marathon am 30. September 1990 – Der „Wiedervereinigungsmarathon“ drei Tage vor der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 – Ein Rückblick VIII. – Einen Schritt vor – und zwei zurück? Zickzackkurs der bundesdeutschen Langstreckenszene – Wilfried Raatz
20 Jahre Deutsche Einheit sind am 3. Oktober 2010 in Berlin und in vielen anderen Städten Deutschlands feierlich begangen worden. Am 30. September 1990 – drei Tage vor der Wiedervereinigung – gab es schon die "sportliche Wiedervereinigung" auf den Straßen Berlins, als der BERLIN-MARATHON zum ersten Mal seit 45 Jahren seine Laufstrecke wieder durch das Brandenburger Tor von West nach Ost und über den Potsdamer Platz zurück in den Westteil legen konnte.
Dieser 17. BERLIN-Marathon war mit seiner Rekordbeteiligung von 25.000 Läufern und Läufern aus aller Welt ein sportliches "Jahrhundertereignis" und ein Medienerereignis zudem. Aus dem Programm- und Ergebnisheft des BERLIN-MARATHON von 1990 werden hier – in loser Reihenfolge – Beiträge übernommen, die nichts an ihrer Aktualität verloren haben und gleichzeitig die Erinnerung an eine einmalige Laufveranstaltung in unser Gedächtnis zurückholen sollen.
Horst Milde
Der Auftakt zum Europameisterschaftsjahr war ermutigend: Anfang Dezember lief Konrad Dobler in Fukuoka bei großer Hitze mit 2:14:07 Stunden inmitten eines WeltKlassefeldes ein; fünf Wochen später lieferte Martin Grüning als Dritter in Houston mit 2:13:30 sogar eine leicht bessere Endzeit ab. Das war's aber auch schon fast. Einen Nachtrag mit freilich persönlichen Bestzeiten schoben Werner Grommisch mit 2:14:31 und Guido Dold mit 2:14:54 auf ansprechenden vorderen Plätzen in London nach.
Für Bundestrainer Winfried Aufenanger allerdings höchste Zeit, das erste und zweite Kapitel des Marathonbuches 1990 abzuschließen, denn vielerorts machte sich bereits Enttäuschung breit. Die gewiß begründeten Erwartungen gedenk einer mit beachtlichen Erfolgen gelaufenen Saison 1989, als das DLV-Team Weltcup-Fünfter wurde und Herbert Steffny bei zwei Heimspielen in München und Frankfurt Marathon-Sieger wurde, wurden ins Gegenteil gekehrt.
Steffny, inzwischen 37 Jahre alt, hat sich für dieses Jahr nach einer Verletzungsfolge weitgehend abgemeldet, bei "schnellen Sachen" wie den 10.000m in Seattle läuft der Freiburger mangels Tempohärte derweil hinterher. Ohne das "Führpferd" rückt die Marathonszene, vier Jahre nach den großartigen Plazierungen von Stuttgart für eben Herbert Steffny und Ralf Salzmann, in ein anderes, ungleich schlechteres Licht.
Trotz ihrer persönlich ansprechenden Resultate finden sich die aktuellen Leistungsträger in den internationalen Ranglisten "unter ferner liefen" plaziert. Alleine ein Martin Grüning ist als 61. der Top-Achtzig notiert. Dobler, inzwischen 33 Jahre alt, meldete sich schon vor der Saison 1990 mit einem Mißgeschick (Ermüdungsbruch im Kahnbein) ab. Nur durch eisernen Willen und vorsichtiges, konsequentes Aufbautraining wußte sich der Münchener allerdings rechtzeitig mit einem Leistungsnachweis als gesund zurückzumelden, so daß der DLV mit wenigstens einem (!) Athleten auf den Langstrecken bei den Europameisterschaften in Split vertreten ist.
Werner Grommisch, auch schon 34jährig, muß seinem geschundenen Körper inzwischen mehr Regenerationsphasen gönnen als dem ehrgeizigen Essener eigentlich lieb wäre. So schmelzen die wackeren Marathonasse hierzulande auf ein Minimum zusammen. Das mag allerdings nicht nur für die Marathonszene gelten, die Leistungsentwicklung für den Bereich des Deutschen Leichtathletik-Verbandes im Laufbereich nimmt derzeit erschreckende Züge an – symptomatisch für das Leistungsvermögen unserer Läufer, symptomatisch für das (Gesellschafts-)System?
Was nach einem unter Form agierenden Peter Braun (800 m), was nach einem verletzten Dieter Baumann (1500 m/5000 m) kommt, das haben die nationalen Titelkämpfe in Düsseldorf in erschreckendem Maße offenbart. Zauderer, Zögerer, schlimmer noch: Angsthasen gewinnen die Rennen im harten Finish mit drittklassigen Ergebnissen. Die 10.000 m-Läufer Markus Pingpank und Kurt Stenzel stehen international ebenso nicht zur Diskussion. Stenzel offenbarte die Schwäche der bundesdeutschen Laufszene, als er den 25km-Titel im Alleingang ebenso erfolgreich verteidigen konnte wie auch den über 10.000 m, als in mäßiger Endzeit eine schnelle Schlußrunde zur Meisterschaft ausreichte.
Dem 27jährigen Darmstädter ist dabei gewiß noch am wenigsten eine Schuldzuweisung zu machen, denn der Doppelmeister bereitet sich auf eine umfangreiche Prüfung mit dem Abschluß Krankengymnast vor. Wo ist denn unser nachdrängender Talentschuppen? Wo sind sie, die jungen Läufer, die sich anschicken, die Läufer-Generation der neunziger Jahre zu repräsentieren? An den bescheidenen Ansätzen eines Michael Kluwe oder Carsten Ardt läßt sich freilich nicht die Effizienz des Förderkonzeptes erkennen.
Bundestrainer Aufenanger,hauptamtlich als Polizist in Kassel tätig, im Nebenjob Nationaltrainer und Heimattrainer einer Reihe von überdurchschnittlichen Mittel- und Langstrecklern, sieht die Misere im fehlenden Konzept, das eigentlich in den Vereinen, bei den Heimtrainern, beginnen sollte, von fachkompetenten Verbandstrainern auf Landesebene fortgeführt werden sollte, bis hin zu den Nationaltrainern. Sichtungen bei nationalen Titelkämpfen brachten bislang zumeist Frust. Die Leistungen der Jugendlichen und Junioren verheißen für die Zukunft wenig Gutes.
Vielerorts wird bereits eingedenk der zwei Schritte zurück in dieser Saison der Frust und die Resignation groß. Die Verschmelzung von Ost und West wird freilich die Läuferschar hierzulande in Zugzwang bringen. Ein Blick über die inzwischen nicht mehr vorhandene Mauer bestätigt es: Die Läuferinnen und Läufer der (noch) DDR sind unseren um Längen voraus. Fragt sich freilich, für wie lange noch, wenn sich eine Angleichung der Gesellschaftssysteme zwangsläufig einstellen muß. "Für einige wird es einen Anreiz geben, getreu nach dem Motto "nun erst recht", glaubt der Männer-Bundestrainer.
Gewiß ohne den Druck aus dem Ostdeutschen sieht die Bilanz im Frauenlager – zumindest auf den Langstrecken hierzulande ungleich besser aus. Maßgeblichen Anteil an dieser, auf den zweiten Blick sich als geschönt herausstellenden, Bilanz hat die frühere Potsdamerin Uta Pippig, die losgelöst von den Fesseln des Systems und der linientreuen Funktionäre derzeit einen sensationellen Aufstieg zur Weltklasse vollzieht: Hinter der weltbesten Marathonläuferin Rosa Mota wurde Uta in der bundesdeutschen Rekordzeit von 2:28:03 Stunden in Boston Zweite und löschte damit den sieben Jahre alten Rekord der Darmstädterin Charlotte Teske ebenso aus wie auch die Bahnrekorde über 5.000 m und 10.000 m.
Ihren Aufstieg zur Weltklasse demonstrieren ihre derzeitigen Ranglistenplätze, die wohl in dieser Könstellation derzeit keine andere Athletin auch nur annähernd aufzuweisen hat: Sechste über Marathon, Zweite über 10.000 m und ebenfalls Sechste über 5.000 m! Sechzehnte der weltbesten Marathonläuferinnen ist Iris Biba, die nach ihrem verheissungsvollen Debüt in Frankfurt bereits wieder in Rotterdam auf das Pferd Marathon setzte – mit Erfolg, wie die 2:30:39 als Zweite hinter Carla Beurskens zeigten.
Doch auf der Bahn macht die Läuferin aus dem Hessischen derzeit keine großen Sprünge, eine langwierige Verletzung blockiert die talentierte 24jährige Läuferin in ihrer Entwicklung. Weitere Fortschritte sind derweil der 28jährigen Kerstin Preßler zu bescheinigen, ihre derzeitige Leistungsskala reicht von Hausrekorden über 5.000 m (15:44:41) und 10.000 m (31:55:51) bis hin zur Marathondistanz mit 2:31:35 Stunden, die immerhin noch Rang 27 weltweit bedeuten.
Hinter diesem Dreigespann klafft freilich ein gewisses Vakuum, in das nach den Vorstellungen von Bundestrainer Lothar Pöhlitz die kleine Dortmunderin Christina Mai hineinlaufen sollte – bislang jedoch ist es bei einer ansprechenden 33:18:67 über 10.000 m geblieben. Die punktuellen Verbesserungen von Tanja Kalinowski (23) und Jutta Karsch (29) mögen gewisse Fingerzeige geben. Die als Talent erkannte Anke Breitenbach konnte freilich in dieser Saison die Vorschußlorbeeren nicht bestätigen.
Schwere Behauptungskämpfe haben die bundesdeutschen Frauen allerdings nach der Vereinigung der beiden Fachverbände auszustehen, wenn die verstärkt im kürzeren (Bahn-)Laufbereich dominierenden DDRlerinnen hinzukommen. Auf den Langstrecken hingegen ist dies allenfalls ein leistungsstarker Nachwuchs, der freilich unter weitaus günstigeren Bedingungen eine großzügige Förderung erfahren konnte.
Wilfried Raatz
Das BERLIN-MARATHON Programmheft vom 30. September 1990: