Vergiftete Spiele? Auch bei den Olympischen Winterspielen in Sotschi sollen zahlreiche russische Athleten gedopt gewesen sein ©BMI - Bundesministerium des Innern
Zweiter McLaren-Report – Der Riesenbetrug – Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Der russische Sport hat, angefangen mit den Olympischen Spielen von London 2012 und über die Olympischen Winterspiele von Sotschi 2014 hinaus, in riesigem Maßstab sportliche Großereignisse manipuliert.
Mehr als tausend Sportlerinnen und Sportler waren in ein staatlich initiiertes und geführtes Doping-System involviert oder profitierten davon, unter ihnen bekannte und erfolgreiche Athleten.
Olympiasieger, Weltmeister und Gewinner bei der Universiade von Kasan 2013 werden ihre Medaillen zurückgeben müssen. Der große Betrug endete erst, als das bei der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) akkreditierte russische Doping-Kontrolllabor in Moskau suspendiert wurde. „Die russische Olympiamannschaft hat die Spiele von London in beispiellosem Maßstab korrumpiert“, sagte der kanadische Rechtsanwalt Richard McLaren, als er am Freitag in London seinen zweiten Bericht über Doping im russischen Sport vorstellte.
Er glaube nicht, dass das Ausmaß des Betruges je bekannt werde; er nannte es beispiellos.
„Das Bild ist klar, aber es ist nicht vollständig“, sagte er. „Wir hatten nur Zugang zu einem kleinen Teil des Beweismaterials, das man hätte untersuchen können.“ Schon bei der Universiade des Hochschulsports 2013 in Kasan und bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft desselben Jahres in Moskau seien Doping-Proben ausgetauscht worden, was russischen Teilnehmern erlaubte, gedopt teilzunehmen.
Anlass für den Report war der Bericht des in die Vereinigten Staaten geflohenen ehemaligen Laborleiters von Moskau, Gregori Rodschenkow, dass der russische Geheimdienst bei den Winterspielen von Sotschi 2014 jede Nacht belastete Doping-Proben russischer Athleten gegen saubere austauschte. Als McLaren dies in seinem ersten Bericht im Juli dieses Jahres verifizierte, verurteilte Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), den damit belegten „schockierenden und beispiellosen Angriff auf die Integrität des Sports und der Olympischen Spiele“.
Sein Versprechen, mit den „härtesten zur Verfügung stehenden Maßnahmen“ gegenüber beteiligten Personen und Organisationen zu reagieren, erfüllte er nicht. Vielmehr überließ er es dem internationalen Leichtathletik-Verband IAAF und dem Internationalen Paralympischen Komitee, die russischen Teams von den Wettbewerben in Rio auszuschließen. Die russische Olympia-Mannschaft nahm mit 270 Athleten an den Olympischen Spielen teil und belegte im Medaillenspiegel mit 56 Medaillen, davon 19 goldene, Platz vier.
Thomas Bach will „solche Personen nicht bei Olympia wiedersehen“
Am Vorabend dieses abschließenden McLaren-Berichts stellte Bach nun für Personen, die an solchen Manipulationen teilnahmen oder von ihnen profitierten, einen lebenslangen Ausschluss in Aussicht. „Ich würde eine solche Person nicht bei Olympischen Spielen wiedersehen wollen“, sagte er in einem ausdrücklich als privat definierten Statement, „nicht als Athlet, als Trainer oder Offizieller.“
Weder Bach noch andere Mitglieder des IOC deuteten bei der Sitzung ihrer Exekutive in dieser Woche in Lausanne an, dass sie womöglich die russische Olympiamannschaft suspendieren würden. Die Folgen sowohl für den russischen Sport wie für die in vierzehn Monaten beginnenden Winterspiele von Pyeongchang sind nicht absehbar.
Für die Organisation der Nationalen Anti-Doping-Agenturen (Inado) forderte deren Generalsekretär Joseph de Pencier „die Bestrafung von den russischen Individuen und Organisationen, die diese skandalösen Akte begangen und unterstützt haben“. Die Wada brauche erweiterte Autorität, um solche Vergehen feststellen und sanktionieren zu können.
McLaren vermied, Konsequenzen zu fordern und seine Untersuchung politisch einzuordnen. Zu Ende der Pressekonferenz aber kam er auf Kämpfe innerhalb des Sports zu sprechen und sagte: „Es ist schwer zu verstehen, warum wir nicht im selben Team spielen. Wir sollten alle zusammenarbeiten, um Doping im Sport zu beenden.“ Seine Mitarbeiter und er hätten hart gearbeitet, um dieses dunkle Geheimnis ans Licht zu bringen.
McLaren relativierte seine Einschätzung vom beispiellosen Betrug, als er nach dem Doping-System der DDR gefragt wurde. Er habe das russische damit nicht verglichen, sagte er. Dieses sei beispiellos für die jüngste Zeit. McLaren betonte, dass sein 127 Seiten langer Bericht, der auf der Website der Wada einsehbar ist, auch auf forensischen Untersuchungen und Laborbefunden basiere. In Anspielung auf Kritik aus der russischen Regierung und dem russischen Sport, dies seien lediglich Behauptungen, empfahl er, den Text auch auf russisch ins Netz zu stellen. „Es wirkt wie Fiction, wie diese Stückchen zu einer Erzählung zusammenpassen“, sagte der Jurist. „Aber die forensischen Untersuchungen und Labortests sind schlüssig. Der Bericht basiert nicht auf Zeugenaussagen, um Folgerungen zu ziehen.“ Man wisse lediglich nicht, wie tief und wie weit zurück diese Verschwörung reiche.
McLaren beschreibt, dass die russische Sportführung besorgt war über chaotisches, von Trainern und Athleten betriebene Doping. Es war so dilettantisch, dass ständig positive Fälle drohten. Unter Führung des Sportministeriums wurde es systematisiert, zentralisiert und einheitlich der Doping-Cocktail von Rodschenkow aus den drei Steroid-Substanzen Methenolon, Trenbolon, Oxandrolon und Alkohol verabreicht.
Was das System vor Entdeckung sicherte, war, was McLaren die „Sample Swapping Methology“ nennt, das Verschwindenlassen positiver Proben. Auf Veranlassung des Sportministeriums („Schützen“) wurden die positiven Proben geschützter Athleten vernichtet und der Wada negative Resultate gemeldet. „Quarantäne“ war das Urteil, einen Athleten fallen zu lassen. Jede Verschärfung der Prozedur durch die Wada löste eine Reaktion in Russland aus.
So wurden schließlich zusätzlich zu den Testergebnissen Steroid-Profile gefälscht und, weil sie Gegenstand von Nachprüfungen sein konnten, A- und B-Proben ausgetauscht; Salz wurde zugesetzt, um notfalls das spezifische Gewicht zu erhöhen, ein Parameter zur Identifikation der Probe.
Heimwettbewerbe als Testläufe für Probentausch
Die Universiade in Kasan 2013 wurde zum Probelauf für den Austausch von Doping-Proben bei einem Wettbewerb. Auch bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Moskau erlaubte diese Manipulation der angeblich manipulationssicheren Behälter russischen Athleten, gedopt an den Start zu gehen.
Die russische Mannschaft war mit sieben Titeln und 17 Medaillen die erfolgreichste der WM vor den Vereinigten Staaten und Jamaika; bei der Universiade gewann das russische Team 155 Titel; sechs Mal so viel wie die Nummer zwei, China, mit 26 Siegen. Platz eins bei den Olympischen Spielen in Sotschi, obwohl ganz offensichtlich durch Doping und Betrug errungen, solle bei den nächsten Winterspielen verteidigt werden, forderte noch am Donnerstag der scheidende russische NOK-Präsident Alexander Schukow.
McLaren und sein Team wiesen an den Flaschen für die Doping-Proben und deren Deckeln Kratzer und Beschädigungen nach, die beweisen, dass sie geöffnet worden waren. Die Proben bewiesen ebenfalls, dass sie ausgetauscht wurden. Im Urin von Eishockeyspielerinnen wurde männliches Erbgut nachgewiesen, in anderen Proben fand sich ein physiologisch unmöglich hoher Salzgehalt.
McLaren hat 695 russische Athleten und 19 weitere identifiziert und ihre Namen der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) übermittelt. Die Identität sei vertraulich, sagte McLaren; es sei an den internationalen Fachverbänden, die Sportlerinnen und Sportler zu sanktionieren. Welche Rolle ausländische Athleten im russischen Doping-System spielen, ist unklar.
Die britische Skeletonfahrerin Lizzy Yarnold und die Athletenkommission des amerikanischen Bob- und Schlittenverbandes rufen zum Boykott der Bob- und Skeleton-Weltmeisterschaft dieses Winters in Sotschi auf; einige Athleten haben die Befürchtung geäußert, dass durch den Austausch von Proben auch Gegner der Russen positiv gemacht worden sein könnten. McLaren lieferte dazu keinen Hinweis.
Michael Reinsch, Berlin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Freitag, dem 9. Dezember 2016