MICHAEL REINSCH in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung - Zweifel an der Lauterkeit - Zweifel an der Strafe - Claudia Pechstein will den Kreis schließen ©privat
Zweifel an der Lauterkeit – Zweifel an der Strafe – Claudia Pechstein will den Kreis schließen – MICHAEL REINSCH in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
BERLIN. Wieder die Europameisterschaft. An diesem Wochenende will Claudia Pechstein auf dem gefrorenen See im Stadtpark von Budapest eine Medaille im Mehrkampf gewinnen und beste der drei deutschen Eisschnellläuferinnen werden. Nach zwei Strecken übernahm die Berlinerin mit 83,955 Punkten vorerst sogar die Spitze der Gesamtwertung. Nur 0,02 Punkte hinter ihr liegt vor den 1500 Metern am Samstag Mitfavoritin Ireen Wüst (Niederlande).
Am Freitagabend lief Pechstein über 3000 Meter bei stark böigem Wind in 4:19,71 Minuten auf Platz drei, nachdem sie über die ungeliebten 500 Meter (40,67) als Fünfte eine gute Grundlage zum Gewinn ihrer insgesamt elften EM-Medaille gelegt hatte. Das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Schließlich wird die Berlinerin in sechs Wochen vierzig Jahre alt.
Bei ihren letzten europäischen Titelkämpfen 2009, so geht die Fama, waren die Leistungen, mit denen sie sich im Alter von bald 37 Jahren zum dritten Mal den Titel holte, so auffallend gut, dass aus dem wachsenden Zweifel der Funktionäre des Eislauf-Weltverbandes (ISU) an der Sauberkeit der Deutschen so etwas wie grimmige Überzeugung wurde. Vier Wochen später, zum Auftakt der WM in Hamar, zogen die Doping-Fahnder Claudia Pechstein aus dem Verkehr. Wegen ungewöhnlicher Blutwerte sperrte der Verband sie schließlich für zwei Jahre.
Seitdem beteuert die fünfmalige Olympiasiegerin ihre Unschuld und kämpft um ihre Rehabilitierung. Seitdem hat das deutsche Sportpublikum aus Gerichtsberichten, Interviews, wissenschaftlichen Gutachten und einer Pechstein-Autobiographie von fast 500 Seiten gelernt, dass Retikulozyten junge rote Blutkörperchen sind, deren auffällig hohe Zahl auf Blutdoping hinweisen kann oder – wie es eine Reihe Mediziner Claudia Pechstein und ihrem Vater bestätigt – auf eine jahrzehntelang unbemerkte, seltene Krankheit zurückzuführen ist.
Das Oberste Gericht des Sports, der Cas in Lausanne, bestätigte ihre Sperre, das Schweizerische Bundesgericht verwarf eine Revision. Als Nächstes will die Sportlerin vor dem Landgericht Berlin auf Schadensersatz klagen und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anrufen.
Zweifel gehören zum Spitzensport; das Publikum hat gelernt, sie in seinem Bild von Wettkampf und Rekorden unterzubringen. Sie begleiten auch Claudia Pechstein in ihrer ersten vollständigen Saison seit Ablauf ihrer Sperre vor knapp einem Jahr. Beim Weltcup in Heerenveen, dem Ort der Europameisterschaft von 2009, unterbot sie im Dezember in 7:02,92 Minuten ihre Zeit über 5000 Meter von damals um sieben Hundertstelsekunden. Glatt sieben Minuten scheinen in Budapest möglich; mit einer solchen Zeit gewann sie 2006 in Turin die Olympische Silbermedaille. Bei der Nationalen und bei der Welt-Anti-Doping-Agentur hat sich Claudia Pechstein selbst angezeigt, von der ISU verlangt sie die Eröffnung eines Doping-Verfahrens – nicht obwohl, sondern weil ihre Leistungen wie ihre Blutwerte praktisch die gleichen sind wie die, die zu ihrer Sperre führten.
Damit stehen dem Zweifel an der Lauterkeit der Sportlerin, die zwei Mal für die deutsche Olympiamannschaft die Flagge trug und die in der Bundesversammlung an der Wahl des Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland teilnahm, Zweifel an den Urteilen von Verband und Appellationsgericht gegenüber. Sie basieren darauf, dass die Richter keine andere Erklärung für die abnormen Blutwerte finden konnten als Manipulation; nicht Beweise, die jeden Zweifel ausschließen, reichten dafür aus, sondern eine hinreichende Überzeugung, wie die Richter selbst formulierten.
Ralf Röger, Professor an der Fachhochschule des Bundes in Lübeck und Privatdozent an der Universität Köln, hält diese Beweislage nicht für ausreichend für eine Bestrafung. "Im Leistungssport ist die Konsequenz, die ein sportrechtlicher Verstoß haben kann, von seiner Schwere her kaum noch zu unterscheiden von einem staatlichen Eingriff", sagt der Staats- und Verwaltungsrechtler.
Er wendet sich gegen den Zweifel – nicht gegen den an der sportlichen Leistung, sondern den im Sportrecht. Gehe die Sanktion über die Annullierung einer Leistung hinaus, etwa bei der Sanktionierung von Sportlern durch Sperren, Startverbote und Ausschluss, "soll das Beweismaß sich eher an dem orientieren, was wir im Strafrecht und im Disziplinarrecht kennen", sagt er, "nämlich die Tatsache, dass jeder vernünftige Zweifel zu schweigen hat; dass ein Vorwurf mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen wird".
Röger fordert, wie bereits der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin und Rechtsanwalt Eberhard Diepgen (CDU) sowie der Linken-Politiker und Anwalt Gregor Gysi, dass wie im Strafrecht Zweifel an der Schuld eine gravierende Strafe auch im Sport verhindern solle: In dubio pro reo. Röger ist Experte für Sportrecht geworden, als er das Disziplinarverfahren der Bundespolizei gegen die Hauptwachtmeisterin Claudia Pechstein führte. Zum konkreten Fall äußert er sich nicht. Doch seine Beschäftigung mit der Causa Pechstein hat ihn offenbar zu grundsätzlicher Kritik herausgefordert.
Auf ihrer Internetseite zitiert Claudia Pechstein aus dem Bescheid Rögers. "Insgesamt ist festzuhalten, dass sämtliche in diesem Vorgang bereits ergangenen sportrechtlichen Entscheidungen inklusive der Beschwerdeentscheidung des Schweizerischen Bundesgerichtes ein Beweismaß anwendeten, bzw. akzeptieren, das nicht den Anforderungen eines staatlichen Disziplinarverfahrens nach deutschem Recht genügt", heißt es da." Insofern werden die Zweifel an einem Doping-Verstoß der Beamtin nicht durch die bisherigen für die Beamtin nachteiligen sportgerichtlichen Entscheidungen ausgeräumt. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass eine sportgerichtliche Verurteilung wegen Dopings möglich ist, während eine disziplinarrechtliche Verurteilung scheitert, wirft ihrerseits Zweifel an der Angemessenheit des sportrechtlichen Beweismaßes auf."
Im Gespräch mit dieser Zeitung bezweifelte Röger, dass die allein privatrechtliche Bewertung von Sanktionsmechanismen im Spitzensport den tatsächlichen Rahmenbedingungen und Konsequenzen gerecht wird: "Gilt denn im Leistungssport tatsächlich das für das Zivilrecht tragende Prinzip der Privatautonomie und Freiwilligkeit? Können Spitzensportler die Mitgliedschaft in einem Verband verweigern und dennoch darauf vertrauen, zu wichtigen Wettkämpfen, etwa Olympischen Spielen, zugelassen zu werden? Daran habe ich ernsthafte Zweifel."
Die von einem Verband ausgesprochene mehrjährige Sperre eines Spitzensportlers komme zwar formal betrachtet von privater Seite, entspreche aber von ihrer faktischen Wirkung her einem massiven staatlichen Grundrechtseingriff, konstatiert Röger. Daher sei zu überlegen, ob nicht die Verfassung gebiete, die Regeln, die einer solchen Sanktion zugrunde liegen, hinsichtlich des Beweismaßes stärker am Straf- oder Disziplinarrecht zu orientieren.
Der Jurist verkennt nicht, dass effektive Doping-Bekämpfung nur möglich ist, wenn keine unrealistisch überzogenen Anforderungen an den Doping-Nachweis gestellt werden. Um dieses, wie er formuliert, Spannungsverhältnis zwischen der notwendigen Bekämpfung von Doping und dem Schutz des Sportlers vor existenzvernichtenden Maßnahmen trotz ernsthafter Zweifel am Dopingvorwurf auszugleichen, plädiert Röger für Differenzierung:
"Für die Aberkennung einer sportlichen Leistung, die Annullierung einer Plazierung halte ich den derzeit praktizierten Maßstab einer ,überwiegenden Wahrscheinlichkeit' eines Doping-Verstoßes für vertretbar. Bei Sanktionen aber, die den Sportler existentiell betreffen, müsste der Doping-Nachweis mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit erfolgen."
MICHAEL REINSCH in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Sonnabend, dem 7. Januar 2012