Eine harte Gangart wurde den Teilnehmern des 1. Berliner Crosslaufes 1964 abverlangt: Am Teufelsberg ging es auch durch Panzer-Übungsgelände der britischen Streitkräfte. Sowohl den Berliner Crosslauf als auch den Berlin-Marathon hat Horst Milde ins Leben gerufen. ©Sportmuseum Berlin – AIMS Marathon-Museum of Running
Zum Frühstück Schnecken für den Sprinter – Studenten der Freien Universität waren Geburtshelfer der großen Berliner Laufveranstaltungen und des Volkslaufs in Deutschland. Carsten Wette berichtet.
Den Anblick wird Horst Milde nie vergessen: „Zum Frühstück vor dem Rennen gab es Schnecken.“ Eine wahrlich schräge Mahlzeit für einen Mittelstreckenläufer, der fast in den Startlöchern steckt; erst recht für einen Sportler, der fünf Monate später die deutsche Meisterschaft über drei Mal 1000 Meter gewinnen sollte.
Doch der höfliche Student der Betriebswirtschaft der Freien Universität erträgt seiner französischen Gastfamilie zuliebe diese kulinarisch unkonventionelle Rennvorbereitung. Denn die Weichtiere stehen ihm zu Ehren auf dem Tisch.
„Mit Le Mans hat der ganze Ärger angefangen“, sagt Horst Milde im Rückblick und lacht. Im Januar 1964 hatte der damals 25-Jährige eher zufällig eine Ausschreibung des Sportreferats seiner Hochschule gelesen. Zehn Läufer dürften an einem Cross-Country-Lauf für Studenten in der nordwestfranzösischen Stadt teilnehmen, hieß es dort.
Milde will unbedingt mit, doch die Konkurrenz ist groß. „Die Freie Universität war in den Sechzigerjahren eine Hochburg der Mittelstreckenläufer“, erinnert sich der heute 74-Jährige. Aber Milde gehört zu den Besten – durchfliegt später sogar in persönlicher Bestzeit die 10 000 Meter in sagenhaften 33:33 Minuten – und löst mit etwas Glück das Teilnehmerticket nach Le Mans. Als er Berlin im Februar 1964 mit der Eisenbahn gen Paris verlässt, weiß er noch nicht, dass diese Reise sein Leben verändern und die Geschichte des Volkslaufs in Deutschland prägen wird.
Die Schnecken auf Mildes Teller sind nichts gegen die Überraschung, die die Berliner Studenten im Rennen gegen Teilnehmer aus Großbritannien, Belgien, Frankreich und Spanien erwartet. „Wir waren im Grunewald eher geharkte Waldwege gewohnt“, sagt er. In Le Mans aber geht es querfeldein, über Baumstämme und Wassergräben, durch Gestrüpp und knöcheltiefen Schlamm – und es schüttet wie aus Eimern. „Wir sind an vielen Stellen praktisch steckengeblieben.“
Die ersten Berliner, die als 14. und 15. erschöpft, aber beseelt über die Ziellinie keuchen, fragen dort Mannschaftsmitglied Hartmut Lehmann mitleidig, ob er aufgegeben habe? „Nee – ick habe jewonnen“, stammelt der ehemalige Sportreferent der Freien Universität. „Le Berlinois Lehmann“ hat dem Zweitplatzierten am Ende 400 Meter abgenommen und kann sein Glück nicht fassen.
Als Mannschaft räumen die Berliner den beachtlichen zweiten Platz ab. Sie begießen ihren Erfolg mit viel Rotwein bei der Rückfahrt durch die Nacht. Wenn Milde heute an diese Stunden im Zug zurückdenkt, muss er immer noch lachen: „Wir hatten die verrückte Vereinbarung: ,Es wird nicht geschlafen!‘“
Zurück in Berlin, schwingt das Erlebte nicht nur bei ihm fort. „Mit dem Sportreferat der Universität hatte ich als Student und Läufer eigentlich nichts am Hut“, sagt Horst Milde, „doch ein solches Rennen wollten wir unbedingt in Berlin organisieren.“
Für Vereine hatte ein Querfeldeinlauf in der Stadt zuletzt 1905 stattgefunden. Den Le-Mans-Sieger Hartmut Lehmann muss Milde nicht überreden, und auch der Germanistik-Student Bernd Hartmann ist durch die Frankreich-Reise vom Crosslauf begeistert.
Schnell entwerfen die drei im Namen des Sportreferats in der Studentenvertretung der Freien Universität eine Ausschreibung für einen Cross-Country-Lauf. Der Startschuss soll am 8. November 1964 fallen. „Die Unileitung hat uns einfach machen lassen“, erinnert sich Milde. Als kleine Hürde erweist sich indes die Berliner Sportbürokratie.
Weil die Initiatoren zu dem Lauf nicht nur Studenten als Teilnehmer einladen wollen, sondern die ganze Bevölkerung, tritt der Leichtathletik-Verband auf den Plan. Doch Milde und seine Mitstreiter haben Glück: Das verbandsferne Sportreferat der Freien Universität erhält ausnahmsweise grünes Licht dafür, den Wettbewerb zu organisieren. „Macht das ruhig“, sagt Sportwart Hans Rieke, „ihr Studenten habt eh einen Jagdschein!“
Und er unterstützt sie nach Kräften.
Die Studenten planen einen Rundumschlag: Sie schreiben sämtliche Sportverbände und Organisationen in den Westzonen an; sie wenden sich ans Rote Kreuz, an die Polizei und die westlichen Schutzmächte. Das Wohlwollen der Briten ist den Studenten besonders wichtig – nicht nur, weil der Cross-Lauf eine Tradition auf der Insel ist. In der britischen Zone der geteilten Stadt liegt das Panzer-Übungsgelände am Teufelsberg, auf das die Studenten als Teil der Strecke ein Auge geworfen haben.
Der Run auf die Plätze im Volkslauf über 4,9 Kilometer, im Hauptlauf über die doppelte Distanz – das „Cross der Asse“ – und im Jugendlauf über 2,5 Kilometer ist enorm: „Die Uni rief – und alle, alle kamen“ titelt die Zeitung „Der Abend“ später, denn am Morgen des 8. November 1964 tummeln sich 700 Berliner beim Start am Fuß des Trümmerbergs.
Milde und seine Mitstreiter muten ihnen mitten im damaligen Eldorado des Berliner Wintersports einiges zu: Vom grünen Auslauf der Rodelbahn aus geht es für die Läufer über den Schwarzen Weg ins Übungsgelände für Panzer mit enorm tiefen Erdspalten; einem Sandgefälle folgt ein Anstieg, über Baumhindernisse führt die Strecke ins Flachgelände, durch Gestrüpp und Sand hinunter zum Postfenn, an der Talstation des damaligen Skilifts vorbei zum Kriterium – einem sandigen Berganlauf –, dann am Slalomhang vorbei ins Ziel an der Rodelbahn.
Milde lässt es sich nicht nehmen, im Premierenrennen mitzulaufen. Den Sieg trägt Bodo Tümmler davon, der zwei Jahre später Europameister über 1500 Meter wird. Tümmler wird zum Aushängeschild für den Berliner Crosslauf: Schnell zieht das Rennen Leichtathletik-Stars aus dem Ausland an und wird zum Vorbild für Volksläufe in den Ländern der Bundesrepublik.
„Die Bäume hat uns ein Förster gefällt und überall dort, wo wir wollten, auf die Strecke geworfen“, erklärt Milde, „heute würde man dafür wohl aus dem Wald gejagt.“ Wegen der notorisch aufgewühlten Erde in der Startzone gesellt sich im zweiten Jahr ein Maskottchen zum Crosslauf: „Am Anfang war das Wildschwein“, sagt Milde. Zu den Vorbereitungen des Laufs gehört deshalb in jedem Jahr die Fahrt zu einem Tierpräparator, der ausgestopfte Schwarzkittel wacht dann an der Skischanze über die Strecke.
Ein Augenzwinkern läuft immer mit und findet sich auch auf den Urkunden, die zu Beginn noch ein Schüler entwirft: „Allgemeines Urteil: Geschickt im Klettern und Stolpern bei guter Sandbahntauglichkeit und leisem Betriebsgeräusch“, heißt es dort beispielsweise, oder „Dem echten Crosser kommt jede Mühsal gelegen“.
Kein Läufer geht leer aus: Jeder bekommt zur Urkunde die Crossnadel der Freien Universität.
Hin und wieder verlaufen sich Starter, weil Witzbolde die Richtungsschilder umdrehen. Einmal aber läuft ein Spaß aus dem Ruder: Tausend Teilnehmer kommen zum Start zurück, weil ein Spaziergänger am Waldrand glaubhaft „Fehlstart!“ brüllt.
Beim dritten Lauf, im Jahr 1966, wird der Sportclub Charlottenburg (SCC) Kooperationspartner, von 1969 an organisiert der SCC die Veranstaltung in Eigenregie.
„Die Uni konnte die Veranstaltung nicht mehr schultern“, sagt Milde. Schon der zweite Lauf hat 1800 Teilnehmer und kostet trotz Spenden 5888 Mark. „Die Telefonistinnen der Uni hatten sich beschwert, weil ganz Berlin dort anrief.“
1966 unternimmt die Rennleitung auch einen ersten zaghaften Schritt in Richtung Gleichberechtigung – und startet das Rennen außerdem in den Kategorien Frauen sowie weibliche Jugend. „Damals haben wir den Frauen nur 1,5 Kilometer zugetraut“, sagt Horst Milde und schüttelt den Kopf.
Doch immerhin, sie waren ihrer Zeit voraus: Im selben Jahr tritt in einemweit bedeutenderen Rennen – dem Boston-Marathon – die erste Frau noch inoffiziell an; ein Jahr später – 1967 – versucht dort der Renndirektor sogar vergeblich, die Läuferin Kathrine Switzer von der Strecke zu zerren.
Horst Milde lernt an der Universität seine spätere Ehefrau kennen, macht Examen, und als Konditormeister, der er schon vor dem Studium gewesen war, übernimmt er die väterliche Konditorei in Tempelhof. Hartmann und Lehmann werden Lehrer.
Milde bleibt der Universität verbunden und organisiert von 1976 bis 1984 in deren Namen die deutsche Hochschul-Cross-Meisterschaft.
Laufbesessen bleibt er ohnehin, und in seiner Konditorei werden nicht nur Kuchen gebacken. Milde hat ständig neue Renn-Ideen; als Zutaten greift er auf Fähigkeiten zurück, die er sich während des Studiums angeeignet hat: Netzwerke bilden, Ausschreibungen perfektionieren und mit guter Pressearbeit überzeugen. „Ich habe Journalisten so behämmert, dass die gesagt haben, nun hör mal langsam uff!“. Er übernimmt viele Ämter im Breitensport und läuft in Berlin mit jedem seiner Pläne offene Türen ein.
So ruft er1974 den Berliner Volksmarathon ins Leben, das inzwischen mit 40 000 Teilnehmern größte Sportereignis Deutschlands, und ist für den SCC 30 Jahre lang als dessen Renndirektor tätig.
Der Lauf beginnt und endet zunächst im Grunewald, zieht sieben Jahre später in die Westberliner Innenstadt um, verbindet seit 1990 West- und Ost-Berlin und endet morgen – beim 40. Jubiläumlauf –zum zehnten Mal am Brandenburger Tor.
1984 hebt Milde – ebenfalls zunächst im Westen der geteilten Stadt – den Berliner Halbmarathon aus der Taufe. Auf ihn gehen auch die Team-Staffel, der City-Nacht-Lauf und der Frauenlauf zurück.
Der legendäre Crosslauf von Milde und seinen Freunden an der Freien Universität startet am 26. Oktober zum 50. Mal; die Strecke verläuft inzwischen durch die Döberitzer Heide in Groß Glienicke.
Insgesamt organisiert Milde zwischen dem Crosslauf 1964 und dem Jahr 2004, in dem er die Leitung des Berlin-Marathons an seinen Sohn Mark abgibt, 348 Laufveranstaltungen mit weit mehr als einer Million Teilnehmerinnen und Teilnehmern.
Als „laufverrückt“ bezeichnet sich der sportliche Rentner, der in gut vier Wochen 75 Jahre alt wird, immer noch: Natürlich gönnt er sich als Teilnehmer die großen Marathon-Veranstaltungen der Welt.
Nach wie vor ist er Vorsitzender der Interessengemeinschaft der deutschen Straßenlaufveranstalter, der German Road Races e.V. (GRR), und er läuft an jedem zweiten Tag knapp eine Stunde durch mehrere Parks – an den anderen Tagen fährt er Fahrrad.
Nur eines bleibt ihm fremd: Schnecken zum Frühstück!
Carsten Wette in der Beilage der FREIEN UNIVERSITÄT BERLIN im Tagesspiegel am Sonnabend, dem 29. September 2013